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Die Europäische Säule sozialer Rechte: Wie kann man die Umsetzung sozialer Rechte fördern und die Säule für Sozialpartner "konkreter" machen?

Vom 17. bis 18. Mai 2018 fand in Turin, Italien, ein Seminar zum Thema „Die Europäische Säule sozialer Rechte: Wie kann man die Umsetzung sozialer Rechte fördern und die Säule für Sozialpartner "konkreter" machen?“ statt, das mit Unterstützung von EZA und der Europäischen Union von der Beweging.academie, organisiert wurde. Das Seminar war Teil der EZA-Projektkoordinierung über die „Europäische Säule sozialer Rechte“.

23 Vertreter von Arbeitnehmerorganisationen aus Belgien, dem Vereinigten Königreich, Deutschland, Österreich, der Niederlande, Griechenland, Portugal, Frankreich, Italien, Irland und Polen nahmen am Seminar teil.

Was war der wichtigste Aspekt des Seminars? Warum war das Seminar genau jetzt wichtig?

Für die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte, die im März 2017 geschaffen worden war, müssen neue Wege entwickelt werden. Deshalb hat die Europäische Kommission unter Juncker im letzten Jahr ihrer Amtszeit noch viel Arbeit vor sich, um ihr ehrgeiziges Ziel des „Triple A+++“ für ein soziales Europa zu erreichen. „Harte“ Maßnahmen im Bereich eines sozialen Europas, wie das Mobilitätspaket für Arbeitskräfte und die Überarbeitung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern, wurden bereits umgesetzt. EU-Kommissar Thyssen stellte auf dem Internationalen Arbeitnehmertag fest: „Die Europäische Säule sozialer Rechte besteht aus 20 Grundsätzen und Rechten, die den Bürgern den Zugang zu Bildung, Ausbildung und lebenslangem Lernen sowie auf gute Arbeitsbedingungen und wirksame Sozialsysteme ermöglichen. Wir müssen nun sicherstellen, dass diese Grundsätze und Rechte Wirklichkeit werden“.

Das erste Ziel des Seminars bestand darin, die rechtlichen Folgen und Voraus-setzungen der Säule aus menschenrechtlicher Sicht zu analysieren, um diese Rechte umsetzen zu können. An zweiter Stelle wollte das Seminar die Umsetzungen der sozialen Rechte umrahmen, der Begriff der „sozialen Bürgerrechte“ wurde dabei in verschiedenen Reden als zentrales Konzept verwendet. Drittens fand am letzten Morgen eine erste Übung dazu statt, welche beim Seminar vorgestellten Menschenrechte in den verschiedenen Mitgliedsstaaten am wichtigsten sind.

Die folgenden Themenfelder wurden besprochen:

  • Stärkung sozialer Rechte und der Unionsbürgerschaft: Umfang und Ziele
  • Zerlegung sozialer Bürgerrechte
  • Mitgestaltung sozialer Rechte mit Bürgern: Die partizipative Aktionsmethodik zu Menschenrechten
  • Rückzahlung sozialer Grundrechte: von Notwendigkeiten zu sozialen Rechten
  • Die Europäische Säule sozialer Rechte und die institutionelle Konstellation Europas: Möglichkeiten und Einschränkungen
  • Europäische Sozialmodelle und Unionsbürgerschaft: ein quantitativer Ansatz
  • Die Europäische Säule sozialer Rechte: Analyse ihrer aktuellsten Bestands-aufnahme

 

 

Seminarergebnisse

Für die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte ist es entscheidend, dass sie mit dem Konzept der Unionsbürgerschaft verknüpft ist. Wir definieren einen Bürger als ein Mitglied einer politischen Gemeinschaft, das durch seine Mitgliedschaft Rechte und Pflichten genießt. Die Mitgliedschaft hat 3 wesentliche Dimensionen zur Folge. Erstens einen Rechtsstatus, der bürgerliche, politische und soziale Rechte umfasst und einer Person die Freiheit einräumt, nach dem Gesetz zu handeln, und sie in eine Position bringt, den Schutz durch das Gesetz einzufordern. Zweitens hat eine Person das Recht, ein „politischer Vertreter“ zu sein. Darunter versteht man eine Person, die „sich aktiv an den politischen Institutionen einer Gesellschaft beteiligt“. Schließlich bringt die Bürgerschaft die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft mit sich, was sich auf die Identität und Zugehörigkeit bezieht, was sich wiederrum auf sozialen Zusammenhalt und die Stärkung der Gemeinschaft bezieht. Dieses Verständnis der Bürgerschaft kann bei korrekter Anwendung ein sehr gutes Instrument gegen Populismus und Extremismus sein. Allerdings unterliegt dieses Verständnis von Bürgerschaft auch Kritik. Erstens: Ist eine klare Trennung des privaten und öffentlichen Lebens eine notwendige Voraussetzung? Oder muss im Gegenteil eine Trennung von beidem vermieden werden? Das republikanische Modell sagt uns, dass das Privatleben dem politischen Leben untergeordnet ist, dass Frauen in einigen republikanischen Modellen vom öffentlichen/politischen Leben ausgeschlossen sind, und dass Ungleichheiten im privaten Bereich unwichtig sind. Das liberale Modell antwortet darauf, dass der private Bereich geschützt ist, Bürger verfolgen ihr Konzept des Guten im Privatleben, und dass infolgedessen Machtungleichgewichte im „privaten“ Bereich daher ignoriert werden. Beide Modelle begreifen Personen traditionellerweise nicht in ihrem wirtschaftlichen/kulturellen/sozialen Umfeld. Aus diesem Grund haben wir uns andere Modelle angeschaut, die eine „differenzierte“ Bürgerschaft fördern. Sie lassen andere Elemente sozialer Rechte an die Spitze rücken: wie beispielsweise die Fragen „Fördern gleiche Rechte wirklich die Gleichheit? (Geschlecht, Rasse, Armut) Werden Unterschiede in Geschlecht, Rasse, Klasse, Kultur, Sprache usw. anerkannt? Gibt es Platz für „Minderheitenrechte“, wenn sie gerechtfertigt sind?“. Diese Ansätze haben den Grundsatz zur Folge, dass Gleichheit eine unterschiedliche Behandlung impliziert und Antworten darauf sucht, wie „differenzierte Bürger“ überhaupt eine gemeinsame politische Praxis und gemeinsame Ziele haben können.

Eine dritte Modellreihe fördert die Bedeutung von Bildung und öffentlicher Angemessenheit und hebt Fragen zum Rechtsstatus, zur politischen Vertretung und/oder Identität hervor. Sie stellt die Frage, ob ein ausreichender Schutz, politische Vertretung oder die Identitätsbildung das Ziel sind. Die Fragen, welche die Teilnehmer als Reaktion auf diese dritte Modellreihe in den Vordergrund gestellt haben, lauten, ob wir auf eine strenge Gleichheit in (einigen) diesen Dimensionen abzielen und was strenge Gleichheit überhaupt bedeutet. Welche Faktoren unterstützen oder erschweren tatsächlich die Bürgerschaft? Ist Gleichheit wichtig? Welche Rolle spielen Nachteile/Verteilungsprobleme? Welche Art von (Un-)Gleichheiten in Institutionen/ Kulturen/im wirtschaftlichen Rahmen haben Auswirkungen auf die Bürgerschaft?

Umsetzungsfragen, die im Rahmen der Europäischen Säule sozialer Rechte behandelt werden müssen

Erstens: Können wir irgendwelche Lücken, d.h. fehlende Rechte, Vorteile oder Leistungen, entdecken? Dann: Wie gehen wir mit der Angemessenheit von Vorteilen und Leistungen im Kontext einer Sparpolitik um? Wir müssen die Vorteile und Leistungen hinsichtlich ihres Umfangs, ihrer Dauer und ihrer Bedingungen (für die Eignung und für Leistungsberechtigungen oder Budgets) abschätzen. Diese Maßnahmen sollten sowohl von schutzbedürftigen Personen als auch von Pflege-personen abgeschätzt werden. Anschließend kann eine Unterscheidung zwischen Grundsätzen/sozialen Rechten erfolgen, die passive oder aktive Aufwendungen im Namen des Staates erzeugen. Das führt uns zu der folgenden Unterteilung der sozialen Rechte: soziale Rechte, die sich mit dem Zugang (von der tatsächlichen Verfügbarkeit zur Nutzung), mit dem fehlenden Bewusstsein oder Nichtwissen, mit fehlenden Vorschlägen und fehlender Nachfrage befassen (Frage der Berechtigung). Die Teilnehmer betonten, dass die folgenden Elemente zu berücksichtigen sind: Wer ist für die Erbringung von Vorteilen und Leistungen verantwortlich, die sich aus den sozialen Rechten ergeben? Deshalb erfolgte eine Unterscheidung zwischen der individuellen Verantwortung (selbstständige Unternehmer, vermögensbasierte Fürsorge) und der eingebetteten Beschäftigungsfähigkeit (kollektive Beteiligung: öffentliche Grundsätze, Betrieb usw.). Eine weitere Frage betrifft den tatsächlichen Zugang zu einer Vielzahl an Ressourcen für Wohlbefinden, Vertretung und Stimme (entgegen dem Keynesianischen Wohlfahrtsstaat und dessen Fokus auf Dekom-modifizierung und Wohlbefinden; entgegen dem sozialen Investitionsstaat und dessen Fokus auf Aktivierung und Rekommodifizierung). Unser Ansatz für die Europäische Säule sozialer Rechte basierend auf der Bürgerschaft verlangt es, über die soziale Sicherung im engeren Sinne hinauszugehen. Außerdem waren sich die Teilnehmer einig, dass die Erstellung von statistischen/Leistungsindikatoren für die Sozial- und Beschäftigungspolitik entsprechend gestaltet werden muss.

Schlussfolgerung, Beschlüsse und Forderungen

Soziale Bürgerrechte sind die Erfüllung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Rechte für alle Bürger und Einwohner. Allerdings hat sich eine Kluft zwischen der EU bzw. der formalen Verpflichtung ihrer Mitgliedsstaaten zu sozialen Rechten und der Realität für viele Menschen in ganz Europa gebildet. Von steigender wirtschaftlicher Ungleichheit, Armut, niedrigen Löhnen, prekären Beschäftigungen, Entbehrungen, sozialer Ausgrenzung, dem demokratischen Defizit, der Erschwinglichkeit von Wohnraum und der Ausgrenzungskrise, dem ungleichen Zugang zu Gesundheitsfürsorge und dem wachsenden Wohlstand der Oberschicht – soziale Bürgerrechte sind ein exklusives Recht, das nur einer Minderheit der Elite, einer Minderheit der Menschen mit höherem Einkommen und der Reichen zur Verfügung steht, während die Mehrheit zunehmend davon ausgeschlossen ist.

Der Wechsel vom Kapitalismus zu seiner neoliberalen finanzialisierten Variante ist die größte untergrabende Kraft der sozialen Bürgerrechte mit der Finanzialisierung aller Aspekte des Lebens der Menschen – von der Arbeit zur Fürsorge zur Wohnungsbeschaffung, umgewandelt in ein finanzialisiertes Produkt, das Bürger der sozialen Gewalt des Marktes aussetzt. Die Vermarktlichung und Privatisierung des Wohlfahrtstaates spielten dabei eine wichtige Rolle. Daneben waren es die Untergrabung und der Abstieg der zivilgesellschaftlichen Institutionen (Gewerk-schaften, soziale Bewegungen, Bürgergruppen, NGOs und sozialdemokratische linke Parteien), die den Bürgern, insbesondere Arbeitnehmern und ausgegrenzten Gruppen, mehr Macht verliehen haben.

Das erklärt die Bedingungen der Post-Demokratie und den Aufschwung des Rechtspopulismus. Demgegenüber gibt es Belege dafür, dass innerhalb der aufkommenden Bürgerbewegungen (und auch in einigen Formen des Links-populismus) eine fortschreitende Nachfrage nach sozialen Bürgerrechten in Bezug auf die Rechte gibt, die auf nationaler und EU-weiter Ebene organisiert werden, z.B. das Recht auf Wasser auf EU- und nationaler Ebene, das Recht auf Wohnraum, das Recht auf demokratische Beteiligung, die Rechte von Beschäftigten in unsicheren Arbeits-verhältnissen, das Recht auf Leben in einer guten Wohngegend mit gutem Wohnraum, Gemeinschaftseinrichtungen und in Sicherheit.

Die größte Herausforderung im Umgang mit der Realisierung sozialer Bürgerrechte und der Europäischen Säule sozialer Rechte heißt deshalb: Welche politischen und sozialen Akteure werden sie umsetzen? Im Moment bleiben (soziale) Rechte der Mehrheit der Bevölkerung verwehrt – politisch, rechtlich, gesellschaftlich und geografisch. Es ist daher ein Prozess erforderlich, der Bürger dabei einbinden kann, die Umsetzung der Rechte zu leiten. Angesichts der begeisterten Einbindung von Bürgern in neue Formen der sozialen Bewegungen würde die Beteiligung an sozialen Bewegungen als entscheidender politischer Mechanismus erscheinen, durch den soziale Rechte realisiert werden können. Die Frage lautet, wie soziale Bewegungen und die Zivilgesellschaft soziale Rechte aufgreifen und sicherstellen können, dass sie auf lokaler, nationaler und EU-Ebene umgesetzt werden. Prozesse zur Ermächtigung, Bildung, Führungsentwicklung, Beteiligung und zu Maßnahmen sind für die auf Rechte basierte partizipative Aktionsforschung von zentraler Bedeutung.

Schließlich untersuchten die Teilnehmer des Seminars die Idee der Aufwärts-konvergenz. Unserem Verständnis nach bedeutet Aufwärtskonvergenz im Gegensatz zur Abwärtsspirale das Zusammenrücken europäischer Länder hin zu einer Harmonisierung und Annäherung (Konvergenz) rund um die höchsten/maximalen Lebensstandards für EU-Bürger. Im Kontext sozialer Bürgerrechte geht es um die Maximierung menschenrechtlicher Standards in allen EU-Ländern und nicht um deren Minimierung.