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Erneuerung der Gewerkschaften – Verhandlungen für Plattformarbeitnehmer/innen

Gewerkschaftliche Errungenschaften eines ganzen Jahrhunderts laufen derzeit Gefahr, in einer einzigen Generation in Vergessenheit zu geraten. Dass die Plattformwirtschaft daran einen großen Anteil hat, waren sich die Teilnehmer/innen des Seminars „Erneuerung der Gewerkschaften – Verhandlungen für Plattformarbeitnehmer/innen“ einig, das vom 5. bis 6. März 2020 in Utrecht / Niederlande stattfand. Das Seminar wurde organisiert von CNV (Christelijk Nationaal Vakverbond) in Zusammenarbeit mit ETUI (European Trade Union Institute) und EZA und wurde von der Europäischen Union finanziell unterstützt.

CNV-Vorstandsmitglied Jan-Pieter Daems hob in seiner Begrüßung die Aktualität des Themas hervor: Es sei ein Thema, das alle Gewerkschaften angehe, auf europäischer Ebene und weltweit. CNV-Präsident Piet Fortuin verwies auf die Missstände bei der Plattformwirtschaft: Es gebe keinen Sozialschutz, keine Mitbestimmung, keine gute Bezahlung für die Arbeitnehmer/innen. Grundlegende christlich-soziale Werte würden verletzt. Diese seien auch in Zeiten der Digitalisierung wichtig und durch die neuen Entwicklungen nicht veraltet. Im Gegenteil: Wir bräuchten diese Werte heute mehr denn je, da alles ausgerichtet sei auf die Interessen der Arbeitgeber/innen und der Aktionäre/innen und immer mehr Verantwortung auf die Arbeitnehmer/innen abgeladen würde. Er ermahnte die Arbeitgeber/innen, Verantwortung zu übernehmen.

EZA-Generalsekretärin Sigrid Schraml verwies auf die Europäische Säule sozialer Rechte, die dringend mit Leben erfüllt werden müsse. Bei diesem Prozess sei es wichtig, dass die Gewerkschaften aus der Nähe begleiten, welche Initiativen die Europäische Kommission vorlegen wird. Vera Dos Santos, Leiterin der Bildungsabteilung von ETUI, mahnte an, dass die Gewerkschaften starke Akteure/innen brauche, um all diese Herausforderungen meistern zu können. EZA-Präsident Luc Van den Brande forderte die Gewerkschaften auf zu agieren, nicht zu reagieren.

Agnieszka Piasna, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitiken bei ETUI, erläuterte das Phänomen Plattformarbeitnehmer/innen im europäischen Vergleich aus wissenschaftlicher Sicht. Die große, rechtlich noch ungeklärte Frage sei: Wer ist der Arbeitgeber? Viele Plattformarbeitnehmer/innen sähen durchaus Vorteile in dieser Art von Arbeit, z.B. mehr Flexibilität. Dies sei vor allem für junge Leute (oft Studenten/innen) ein wichtiger Faktor. Demgegenüber stünden erhebliche Nachteile: wegen der oft sehr niedrigen Einkommen muss lange gearbeitet werden, um den Lebensunterhalt zu verdienen, die Einkommen sind unregelmäßig, es gibt schlechte Arbeitsbedingungen, lange Arbeitszeiten, schlechte Gesundheitsrahmenbedingungen, eine schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf, keine Weiterbildungsmöglichkeiten. Die Plattform ist eine Art „Black Box“. Man weiß nicht so genau, was dort passiert. Ein weiteres Problem seien die „Parasiten“ der Sozialversicherung. Die Plattformarbeitnehmer/innen haben entweder einen regulären Job oder einen Ehemann/Ehefrau, über den/die sie sozialversichert sind, und arbeiten daneben für eine Plattform, über die nichts in die Sozialversicherung einbezahlt wird. Die große Frage, die sich den Gewerkschaften stelle, sei: Wie können sie die Plattformarbeitnehmer/innen erreichen, die oft gar nicht wissen, dass Gewerkschaften existieren und worin die Arbeit von Gewerkschaften besteht.

Im Länderbeispiel „Ungarn“ von Judit Czuglerne Ivany, stellvertretende Vorsitzende von MOSZ, wurden Beispiele der Plattformarbeit in Ungarn genannt: Uber, Tourismus, haushaltsnahe Tätigkeiten etc. Plattformarbeit sei in Ungarn noch nicht sehr verbreitet. Es gebe ein Programm der Regierung „Digitales Ungarn“, bei dessen Ausarbeitung die Sozialpartner allerdings nicht involviert waren. Immerhin habe man erkannt, dass eine neue Gesetzgebung nötig sei, z.B. bezogen auf Sozialversicherung, Gehaltsniveau, Arbeitszeiten etc.

Im Länderbeispiel „Belgien“ schilderte Martin Willems, nationaler Verantwortlicher für „United Freelancers“, einer neuen Abteilung der belgischen Gewerkschaft ACV/CSC, dass die Gewerkschaft dadurch alle, die irgendwie frei arbeiten, erreichen möchte. Er nannte als große Probleme: keinen sozialen Kontakt mit dem Arbeitgeber, Individualisierung der Arbeit, es seien keine Tarifvereinbarungen möglich, weil es kein passgenaues Gesetz gibt, viele Plattformen haben keinen Sitz in Belgien und sind dadurch nicht greifbar, Sozialdumping, kein klassischer Stundenlohn mehr, sondern Bezahlung nur nach Auftrag.

Miet Lamberts, Forschungsleiterin bei HIVA / KU Löwen, erläuterte die großen Veränderungen, die derzeit am Arbeitsmarkt stattfinden, weg von den typischen, unbefristeten Arbeitsverhältnissen, hin zu neuen Arten von Verträgen. Dabei hätten die Gewerkschaften große Probleme, die Arbeitnehmer/innen in atypischen Arbeitsverhältnissen zu fassen. Sie agierten immer noch zu traditionell und wollten oft die Plattformarbeitnehmer/innen gar nicht als Mitglieder vertreten. Ganz allgemein täten sich Gewerkschaften oft schwer, die Selbständigen zu vertreten, weil sie nicht unter Tarifverträge fallen. Mit Zunahme dieser Arbeitsverhältnisse werde diese Strategie aber nicht mehr lange möglich sein.

Robert Hoekstra, Doktorand an der Universität Amsterdam, unterstrich in seinen Ausführungen zum Wettbewerbsrecht in den Niederlanden, dass dieses eigentlich neu strukturiert werden müsse, da es derzeit zu viele Schlupflöcher für Unternehmen gebe. Er empfahl ein breit angelegtes Vorgehen der EU im Bereich der Gesetzgebung.

Victor Bernhardtz, Ombudsmann für digitale Arbeitsmärkte bei Unionen, schilderte die Situation in Schweden, wo die Plattformwirtschaft sehr wenig ausgebreitet sei. Nur ca. 6 % nutzten in den letzten 12 Monaten die Plattformwirtschaft, meist nur als Nebenerwerb. In Schweden sei man traditionell entweder angestellt oder – ca. 10 % - man arbeite als „Einmannfirma“. Diese Zahl sei seit ca. 10 Jahren stabil.

Christophe Degryse, Leiter der Abteilung für Vorausschau bei ETUI, machte einen historischen Abriss über die Entwicklung der Produktionsketten mit der Fragmentierung der einzelnen Komponenten des Arbeitsplatzes, analysierte die verschiedenen Arten von Plattformarbeit und schilderte eindrucksvoll seine Erfahrungen im Selbstversuch in unterschiedlichen Formen der Plattformwirtschaft. Sehr deutlich wurde dabei, dass selbst für hochqualifizierte Arbeit das Gehaltsniveau äußerst gering ist. Positiv sei, dass der Zugang zu Arbeit (nicht zu einem Arbeitsverhältnis!), extrem vereinfacht sei. Dies sei v.a. positiv für Menschen, die sonst Schwierigkeiten haben, einen Zugang zur Arbeitswelt zu finden. Eine Polarisierung des Arbeitsmarkts müsse aber unbedingt vermieden werden.

Dass Plattformarbeit nicht inkompatibel mit sozialen Dialog ist und wie die Plattformen von den Gewerkschaften angepackt werden könnten, schilderte Tjitze van Rijssel, Verhandlungsführer von CNV für den Straßenverkehr, am Beispiel von Deliveroo in den Niederlanden.

Ludovic Voet, Bundessekretär des Europäischen Gewerkschaftbunds, erinnerte daran, dass Plattformarbeit zwar noch nicht so weit verbreitet sei, die Auswirkungen ihrer Mechanismen auf die „normale“ Arbeitswelt nicht unterschätzt werden dürften. Wettbewerbsvorteil der Plattformen sei, dass sie sich über Arbeitsgesetzgebung hinwegsetzen (können), weil sie nicht zu fassen sind. Daher forderte er, die Verpflichtungen für Plattformen europäisch einheitlich zu regeln, und zwar bezogen auf die Art der Arbeitsbeziehungen, Sozialschutz, das Recht, sich zu organisieren und einer Gewerkschaft beizutreten, das Recht auf Tarifverhandlungen, Arbeitsbedingungen, Mindestlohn pro Stunde, Pausenzeiten, Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz etc. Bestimmte Mindeststandards müssten eingehalten werden. Hier forderte er eine enge Zusammenarbeit der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen.

Folgende Merkmale von Plattformarbeit wurden eruiert und diskutiert:

-Überwachung

-keine Weiterbildungsmöglichkeiten

-keine soziale Sicherheit

-mehr psychosoziale Belastungen

-schlechte Arbeitsbedingungen

-lange Arbeitszeiten

-schlechte Gesundheitsrahmenbedingungen

-schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf

-kein Kontakt mit dem Arbeitgeber

-Individualisierung der Arbeit

-keine Tarifvereinbarungen möglich, weil es kein passgenaues Gesetz gibt

-viele Plattformen haben keinen Sitz in einem EU-Land und sind dadurch nicht greifbar

-Sozialdumping

-kein klassischer Stundenlohn mehr, sondern Bezahlung nach Auftrag

-der Arbeitgeber „verschwindet“ hinter der Plattform, Algorithmen übernehmen Aufgaben, die normalerweise der Arbeitgeber erfüllen müsste

-nicht alle Plattformarbeitnehmer/innen wollen einen Arbeitsvertrag, viele schätzen auch die Unabhängigkeit und Flexibilität

Schlussfolgerungen und Forderungen

-Es gibt drei Arten von Herausforderungen: rechtlich, politisch und sozial

-Ein großes Problem besteht darin, dass die Rechtsprechung in Europa nicht einheitlich ist. Die Definition von „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“ ist nicht in allen EU-Ländern gleich. Hier besteht großer Handlungsbedarf.

-Die Europäische Kommission wird aufgefordert, einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, um die Interessen der Plattformarbeitnehmer/innen schützen zu können.

-Viele Gewerkschaften haben Probleme, die Plattformarbeitnehmer/innen zu erreichen. Sie müssen dringend geeignete Strategien entwickeln, um auf deren Bedürfnisse eingehen zu können.

-Die Plattformen müssen (an)greifbar werden und gesetzlich gezwungen werden, sich mit den Gewerkschaften auseinanderzusetzen.

-Die Daten und Algorithmen der Plattformen müssen transparent werden.

-Plattformen müssen als Arbeitgeber angesehen werden.