Im Rahmen des EZA-Bildungsprogramms zum europäischen sozialen Dialog 2022/23 hat HIVA einen Forschungsbericht mit dem Schwerpunkt auf der sozioökonomischen Governance der EU und auf der institutionellen Verwaltung von drei zentralen politischen Projekten erstellt: die europäische Säule sozialer Rechte (European Pillar of Social Rights, EPSR), der europäische Grüne Deal (EGD) und die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne (Recovery and Resilience Plans, RRP), die in den Mitgliedstaaten in der Zeit nach der Coronapandemie umgesetzt werden sollen. Basierend auf diesem politischen Hintergrund wurde in dem Bericht versucht, Orte sowie Möglichkeiten und Hindernisse für die Einbindung des sozialen Dialogs und die Teilhabe von Gewerkschaften zu ermitteln. Dieser Ansatz ermöglichte die Erarbeitung von empfohlenen Maßnahmen, die Arbeitnehmerorganisationen als Teil des sozialen Dialogs anwenden können, um anhaltende, wirksame Maßnahmen im Rahmen der europäischen Governance zu verfolgen und um mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung strategisch zu den oben aufgeführten zentralen politischen Projekten beizutragen.
In dieser Broschüre wird der politische Rahmen der Forschungsarbeit erläutert und die sich daraus ergebenden Handlungsempfehlungen für Arbeitnehmerorganisationen zusammengefasst.
Der soziale Dialog ist ein wichtiges Merkmal der europäischen sozialen Marktwirtschaft. Ein wichtiger Meilenstein für die Anerkennung des sozialen Dialogs auf der Ebene der Europäischen Union (EU) wurde 1985 gelegt. Die Sozialpartner auf EU-Ebene – der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), die Union der Industrien der Europäischen Gemeinschaft (UNICE, 2007 umbenannt in BusinessEurope) und der Europäische Verband der öffentlichen Arbeitgeber und Unternehmen (CEEP, 2020 umbenannt in SGI Europe) – trafen sich im Château de Val-Duchesse im Süden von Brüssel unter der Leitung von Jacques Delors, dem damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission. Zur damaligen Zeit galt der soziale Dialog auf EU-Ebene als notwendiges Mittel zum Ausgleich der starken wirtschaftlichen Ausrichtung des Europäischen Ausschusses und als wichtiger Grundpfeiler der sozialen Dimension (Lapeyre 2018). Durch die Einladung der Sozialpartner als Organisationen anstelle der Einladung ihrer Führungskräfte als Personen wollte Delors die Legitimität der Sozialpartner sowie ihre Rolle als zentrale Akteure bei Sozialfragen fördern (Lapeyre 2018). Diese wichtige Rolle wurde von der Kommission unter Juncker erneut bestätigt, die den sozialen Dialog mit einer hochrangigen Konferenz im März 2015 wieder in den Vordergrund rückte. Auf der Konferenz wurde über Möglichkeiten gesprochen, den sozialen Dialog auf EU-Ebene und in den EU-Mitgliedstaaten zu stärken, während zudem die Verbindung des sozialen Dialogs zwischen diesen Ebenen verbessert werden sollte. Auf diese hochrangige Konferenz folgte eine gemeinsame Erklärung, die von den Sozialpartnern auf EU-Ebene im Januar 2016 verabschiedet wurde. Die Zielsetzung der Erklärung bestand neben anderen Zielen darin, eine umfangreichere Einbindung der Sozialpartner in die politische Entscheidungsfindung in der EU zu erreichen, insbesondere im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Governance der EU und dem Europäischen Semester.
Der soziale Dialog in der EU und der soziale Dialog in den Mitgliedstaaten müssen sich heute mit mindestens zwei Hauptmerkmalen der EU-Politik auseinandersetzen. Erstens basiert die Governance-Architektur der EU in ihrem Verhältnis zu den Mitgliedstaaten nun auf dem Europäischen Semester. Zweitens ist die aktuelle Art der politischen Entscheidungsfindung in der EU von der Erarbeitung „zentraler politischer Projekte“ bzw. von politischen Paketen gekennzeichnet, die eine ganze Reihe von Zielen, Maßnahmen und Mitteln zur Bewältigung aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen umfassen: soziale Ungleichheiten, Klimawandel und in jüngerer Zeit der wirtschaftliche Aufschwung in der Zeit nach der Coronakrise. Diese drei zentralen politischen Projekte sind in ihrem Bestreben, eine widerstandsfähige EU aufzubauen, und in ihrer Governance durch das Semester miteinander verbunden.
Diese zentralen politischen Projekte haben offensichtlich Auswirkungen auf die Kernthemen des sozialen Dialogs: Beschäftigung, Arbeitsbedingungen usw. Trotz der größeren Aufmerksamkeit und der stärkeren Bemühungen zur Förderung des sozialen Dialogs kamen Fragen zur Teilhabe und Rolle der Sozialpartner und des sozialen Dialogs bei den zentralen politischen Projekten, die auf EU-Ebene aufgestellt werden, auf. Darüber hinaus erscheinen diese Entwicklungen in einem Kontext großer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen, die durch weltweite Trends wie den technologischen Wandel, die Globalisierung, den demografischen Wandel und den Klimawandel angetrieben werden und sich durch die Coronapandemie noch beschleunigten.
Die Beiträge von Gewerkschaften zu den zentralen politischen Projekten in der Europäischen Union sind nicht selbstverständlich. Frühere Untersuchungen zu diesem Thema ergaben eine eher pessimistische Diagnose in Bezug auf die Einbindung von Gewerkschaften in Angelegenheiten der EU. Bei der Analyse der sozialen Dimension innerhalb der Lissabon-Strategie und der Strategie Europa 2020 kam Hyman 2011 zu dem Schluss, dass Gewerkschaften „innerhalb der politischen Entscheidungsfindung der EU deutlich an den Rand gedrängt werden” (Hyman 2011, S. 25). In jüngerer Zeit fand Sabato heraus, dass nationale Gewerkschaften das Gefühl haben, dass sie nur wenig Einfluss auf die Ergebnisse des Prozesses des Europäischen Semesters haben (Sabato 2020). Man könnte die Frage stellen, ob man im Fall von neueren zentralen politischen Projekten, die auf EU-Ebene verabschiedet werden, wie die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte, der europäische grüne Deal und die Aufbau- und Resilienzfazilität, zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen könnte.