Die 36. Konferenz über die gewerkschaftliche Zusammenarbeit in Europa (36. KGZE 2025) hatte zum Thema „Menschen mit Behinderungen als wertvoller Teil der Gesellschaft in Europa – Inklusion am Arbeitsplatz und bei demokratischen Prozessen im Betrieb“. Die Konferenz fand von 11. Juni bis 13. Juni 2025 in Wien statt, wurde in Zusammenarbeit mit EZA organisiert und finanziert von der Europäischen Union.
Die 98 Teilnehmer:innen waren Vertreter:innen von Arbeitnehmerorganisationen aus Albanien, Belgien, Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Italien, Kroatien, Litauen, Luxemburg, Moldau, Montenegro, Nordmazedonien, Österreich, Portugal, Rumänien, Spanien, Tschechien, Ukraine, Ungarn, Zypern.
Tag 1 – Mittwoch, 11. Juni 2025:
Die 36. KGZE wurde von Michael Schediwy-Klusek, Generalsekretär der FCG, eröffnet. Er begrüßte die 98 Teilnehmer:innen aus 20 Nationen und 34 Organisationen. Romana Deckenbacher erinnerte in ihrer Eröffnungsrede an Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sie betonte die Notwendigkeit von barrierefreien Arbeitsplätzen, inklusiver Bildung, Arbeitsplatzassistenz und Job-Coaching. Inklusion sei keine freiwillige Maßnahme, sondern ein integraler Bestandteil einer gerechten Gesellschaft. Sie hob das österreichische Modell der Behindertenvertrauenspersonen hervor.. Zu Beginn der Konferenz wurde eine Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer eines Amoklaufs an einer Schule in Graz am 10. Juni abgehalten. Aufgrund der dreitägigen Staatstrauer war eine Teilnahme von Politiker:innen in offizieller Funktion untersagt.
Die EU-Strategie „Union der Gleichstellung: Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021–2030“ wurde als zentrale Leitlinie genannt. Ziel ist ein selbstbestimmtes Leben und politische Teilhabe für alle.
Kultureller Beitrag & Impulsvortrag:
Die inklusive Band Mundwerk, deren Mitglieder selbst Behinderungen haben, sorgte für die musikalische Umrahmung.
Nico Forchthammer (alias Viking Biking) beeindruckte mit seinem Referat „(Fast) alles ist möglich“. Trotz seiner körperlichen Einschränkungen durch Kinderrheuma absolvierte er anspruchsvolle Mountain-Touren mit einem Spezialroller und berichtete von seinem beruflichen Einstieg ins Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen. Sein Leitsatz: „Wenn man seinen Weg sieht, ist unglaublich viel möglich.“
Tag 2 – Donnerstag, 12. Juni 2025:
Impulsvortrag:
Heike Eder, ÖVP-Nationalratsabgeordnete und ehemalige Paralympics-Teilnehmerin, berichtete in „Mut zur Veränderung“ über ihren Weg nach einem schweren Skiunfall zur politischen Sprecherin für Menschen mit Behinderungen. Ihre Botschaft: „Ziele setzen, aufstehen, wachsen.“
Rechtliche und betriebliche Rahmenbedingungen:
Christine Steger, Bundesbehindertenanwältin, stellte die rechtliche Situation von Menschen mit Behinderungen in Österreich dar. Zentrale Instrumente sind das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz sowie das Behinderteneinstellungsgesetz. Aktuell sind etwa 120.000 Personen als „begünstigt behindert“ anerkannt – sie genießen besonderen Kündigungsschutz. Unternehmen mit mehr als 25 Mitarbeiter:innen sind verpflichtet, zumindest eine Person mit Behinderung einzustellen oder eine Ausgleichszahlung zu leisten.
Gerald Nimführ, GÖD-Abteilungsleiter für Behinderung, Recht und Gesundheit & Behindertensprecher des FCG-Bundesvorstandes, erklärte das österreichische Modell der Behindertenvertrauenspersonen. Diese haben – wie Betriebsräte – umfassende Informations- und Beteiligungsrechte. Trotz einiger praktischer Herausforderungen seien sie zentrale Ansprechpersonen in Unternehmen.
Internationale Einblicke:
Jurga Kupryte, Direktorin von SOPA in Litauen, berichtete über die Herausforderungen von Menschen mit Behinderungen am litauischen Arbeitsmarkt. Ihre Organisation unterstützt vor allem langzeitarbeitslose Menschen mit Behinderungen, basierend auf dem US-amerikanischen bzw. kanadischen Modell „Supported Employment“.
Magdi Birtha vom Europäischen Zentrum für Sozialpolitik und Forschung in Ungarn stellte europäische Arbeitsmarktdaten vor: Menschen mit Behinderungen sind überdurchschnittlich häufig arbeitslos. Dabei liege hier ein großes ungenutztes Potenzial zur Fachkräftesicherung. EU-weite gesetzliche Maßnahmen seien dringend erforderlich.
Michael Pichler, Direktor des Zero Project Austria / Essl Foundation, stellte innovative internationale Best Practices vor. Ziel des Zero Project sei eine Welt ohne Barrieren – mit Fokus auf Bildung, Beschäftigung, Barrierefreiheit und politische Teilhabe. Er betonte, dass Inklusion nicht nur sozial, sondern auch ökonomisch sinnvoll sei.
Podiumsdiskussion
In der Podiumsdiskussion mit Jurga Kupryte, Michael Pichler und Vesko Mitov (PODKREPA, Bulgarien) wurden politische Forderungen an die EU und nationale Regierungen formuliert – insbesondere zur Stärkung von Inklusionsmaßnahmen, Datenerhebung und sozialem Dialog.
Weitere Beiträge:
Yuri Kurylo, Präsident der ukrainischen Gewerkschaft VOST VOLYA, berichtete über die prekäre Situation von Gewerkschaften in der Ukraine während des andauernden Krieges. Dennoch bemühe man sich um Kollektivertragsverhandlungen und Betriebsvereinbarungen.
Andreas Gjecaj, Präsident der Katholischen Aktion Steiermark, formulierte in seinem Vortrag „Demokratie in Gefahr“ sieben Thesen zur Stärkung demokratischer Strukturen durch Dialog, Solidarität und glaubwürdige Quellen.
Tag 3 – Freitag, 13. Juni 2025:
Länderberichte:
Arjola Alika, Vizepräsidentin der albanischen Gewerkschaft BSPSH, stellte den EU-Beitrittsprozess Albaniens vor. Gewerkschaften spielen dabei eine aktive Rolle im Reformprozess. Ziel ist der EU-Beitritt bis 2030. Schwerpunkte sind Digitalisierung, Energie, Wirtschaft, Justiz und Humankapital.
Vesko Mitov, internationaler Sekretär von PODKREPA, analysierte die neue EU-Mindestlohnrichtlinie. Diese sei ein großer gewerkschaftlicher Erfolg, insbesondere in Ländern mit schwacher Tarifbindung wie Bulgarien. Ziel ist die Stärkung der Lohntransparenz und des Sozialdialogs.
Jovita Pretzsch von der litauischen Gewerkschaft LPS widmete sich dem Thema Künstliche Intelligenz und gewerkschaftliche Interessenvertretung. Bereits 2018 fanden erste Gespräche zur Regulierung von KI statt. Die Gewerkschaften fordern eine faire Mitgestaltung und Schutz für Arbeitnehmer:innen auch in der digitalen Transformation.
Abschlussrede:
ÖZA-Präsidentin und FCG-Bundesvorsitzende Abg.z.NR Romana Deckenbacher dankte den Referent;innn und Teilnehmer:innen der Konferenz und blickte auf die vielfältigen Beiträge und bewegenden Geschichten zurück. Sie betonte die Bedeutung von Inklusion, demokratischer Mitbestimmung und politischer Teilhabe sowie die Rolle der Gewerkschaften bei der Schaffung fairer Arbeitsbedingungen und umfassender Barrierefreiheit. Die Herausforderungen seien weiterhin groß – sowohl in Europa als auch weltweit. Deckenbacher rief dazu auf, gemeinsam für die Rechte der Arbeitnehmer einzutreten, voneinander zu lernen und niemanden zurückzulassen. Besonders hob sie die Relevanz der Künstlichen Intelligenz hervor: Die Frage sei nicht ob, sondern wie sie in die Arbeitswelt integriert werde. KI müsse als Chance für mehr Barrierefreiheit und Teilhabe verstanden werden. Abschließend zeigte sie Vorfreude auf die nächste KGZ-Konferenz in Vilnius, Litauen, zum Thema „Künstliche Intelligenz".
Schlussfolgerungen:
Die 36. KGZE hat eindrucksvoll gezeigt: Inklusion ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen und das Fundament für eine gerechte Zukunft. Unter dem Titel „Menschen mit Behinderungen als wertvoller Teil der Gesellschaft in Europa – Inklusion am Arbeitsplatz und bei demokratischen Prozessen im Betrieb“ wurde deutlich, wie entscheidend Teilhabe für eine funktionierende Demokratie und soziale Gerechtigkeit ist.
Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Arbeit, Bildung und ein Leben in Würde – nicht am Rand, sondern im Zentrum unserer Gesellschaft. Ihre Perspektiven, Fähigkeiten und Potenziale bereichern unsere Arbeitswelt und unser Zusammenleben. Inklusion ist keine Zusatzaufgabe, sondern eine zentrale Investition in eine faire, chancengerechte Zukunft in Österreich und Europa.
Die Konferenz setzte wertvolle Impulse – durch inspirierende Lebensgeschichten, praxisnahe Empfehlungen und klare Forderungen an Politik, Sozialpartner, Gewerkschaften und Betriebe. Im Sinne der Europäischen Säule sozialer Rechte (Grundsatz 17) müssen Menschen mit Behinderungen Zugang zu einem inklusiven Arbeitsumfeld erhalten, das auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist.
Es gibt Fortschritte – z. B. durch Regelungen zur Beschäftigung von Behinderten, zu Lohnförderungen und zum Kündigungsschutz. Doch strukturelle und kulturelle Barrieren bestehen weiter. Daraus ergeben sich zentrale Handlungsfelder:
Inklusive Bildung und Qualifikation stärken
Inklusives Recruiting fördern
Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz ausbauen
Investitionen in Barrierefreiheit attraktiv machen
Beratungsangebote und Kommunikation barrierefrei gestalten
Inklusive Unternehmenskultur sichtbar machen
Menschen mit Behinderungen verstärkt im öffentlichen Dienst beschäftigen
Verlässliche Daten zur Arbeitsmarktintegration erfassen
Aufklärungskampagnen zur Bewusstseinsbildung initiieren
Der digitale Wandel bietet zusätzliche Chancen für mehr Teilhabe. Gewerkschaften in Österreich und Europa bleiben entschlossen, diesen Weg weiterzugehen – bis Inklusion selbstverständlich ist.