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Die Zukunft der Arbeit im Westbalkan und in den EU-Bewerberländern: Wie lässt sich der Arbeitskräfte- und Qualifikationsmangel bewältigen?

Der Arbeitskräftemangel wird im Westbalkan und in den EU-Bewerberländern zunehmend zum Problem. Wie überall in der westlichen Welt herrschen in bestimmten Sektoren Engpässe, die durch eine Vielzahl von Gründen verursacht werden. Viele dieser Gründe sind mit denen der westeuropäischen Länder vergleichbar, im Fall des Westbalkans und der EU-Bewerberländer kommt allerdings noch das Problem der Migration hinzu. 

Die größten Herausforderungen für den Arbeitsmarkt im Westbalkan und in den EU-Bewerberländern sind: unzureichend ausgebildete Arbeitskräfte, erheblicher Mangel an Qualifikationen und hohe Abwanderungsquoten junger und qualifizierter Arbeitnehmer:innen. Diese Mischung lässt die Heimatländer ohne die erforderlichen Arbeitskräfte zurück, die für die weitere Entwicklung der Länder und der Region notwendig wären.

Vom 16.-18. April 2025 nahmen mehr als 40 Gewerkschaftsführer:innen aus 11 verschiedenen EU-Ländern und EU-Bewerberländern an einem zweitägigen Seminar in Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, teil. Der Titel des Seminars lautete: „Die Zukunft der Arbeit im Westbalkan und in den EU-Bewerberländern: Wie lässt sich der Arbeitskräfte- und Qualifikationsmangel bewältigen?“ Die Initiative wurde von WOW-Europe und dem Unabhängigen Gewerkschaftsverband der Arbeitnehmer:innen in Finanzorganisationen (SSRFOFBiH) in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum für Arbeitnehmerfragen (EZA) organisiert und von der Europäischen Union finanziert. Das Seminar fand im Rahmen des EZA-Sonderprojektes für Arbeitnehmerorganisationen in den Bewerberländern statt.

Bildung ist der Ausgangspunkt von allem. Sie ist der Schlüssel. „Die Wirtschaft entsteht im Kindergarten, und vor allem Führungskräfte entstehen im Kindergarten!“, so Nedim Krajišnik, Direktor des Zentrums für Bildungsinitiativen Step by Step (Bosnien und Herzegowina). „Ohne Bildung gibt es keine Gesellschaft, keine Wirtschaft, keine Führungskräfte und keine Qualität“, fuhr er fort. Die Art und Weise, wie Kinder Bildung erfahren, folgt jedoch einem Einheitskonzept. Es bleibt nur wenig Raum für Spiel, alle werden gleich behandelt und junge Menschen werden nicht zum Lernen motiviert. Tatsache ist jedoch, dass die „Welt alle Arten von Köpfen braucht. Alle sollten für den Beitrag, den er oder sie leisten kann, geschätzt werden“, schloss Nedim Krajišnik seinen Vortrag. 

Was wir im Westbalkan erleben, ist eine „demografische Krise“, führte Lazar Ivanović, Ökonom am Zentrum für höhere Wirtschaftsstudien – CEVES (Serbien) weiter aus. Die meisten Länder erleben ein Migrationsdefizit. Bosnien und Herzegowina bildet in dieser Hinsicht das Schlusslicht der Klasse. Dies hat gewaltige Folgen für die Gesellschaft als Ganzes sowie für die Region. So steht beispielsweise das Rentensystem stark unter Druck. Dies ist das Ergebnis zahlreicher Faktoren, wie der „Massenabwanderung der erwerbsfähigen Bevölkerung und sinkender Geburtsraten“, so Ivanović. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, damit umzugehen, wobei Investitionen in Qualifikationen, Technologien und Innovationen die langfristigste Lösung darstellen. Für die Region schien die Initiative „Offener Balkan“ (eine Art „Mini-Schengen“, das den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital ermöglicht und von Albanien, Nordmazedonien und Serbien ins Leben gerufen wurde) sehr vielversprechend, die Umsetzung war bisher jedoch nicht sehr erfolgreich. 

Das Projekt „Bessere Beschäftigungsbedingungen für Saisonarbeiter:innen in Südosteuropa“, das von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) initiiert wurde, ähnelt in vielerlei Hinsicht der Initiative „Offener Balkan“. „Dieser Sektor lässt sich nur schwer regulieren, da ein Großteil der Arbeit zeitlich begrenzt ist und kurzfristig erfolgt“, erklärte Amira Omanović, Leiterin der Programmkomponente, Offener Regionalfonds für Südosteuropa – Modernisierung der kommunalen Dienste, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). „Das aktuelle serbische Recht sieht kein einfaches Verfahren für die Registrierung von Saisonarbeiter:innen vor. Viele von ihnen arbeiten grenzüberschreitend. Die Einführung eines elektronischen Registrierungssystems hat den Prozess der Registrierung zwar vereinfacht. Zur Erreichung dieser „relativ“ kleinen Dinge ist es allerdings wichtig, alle Interessengruppen einzubinden, was eine große Aufgabe darstellt“. Aus diesem Grund wurde die „Reform der Registrierung von Saisonarbeiter:innen in Serbien“ eingeführt. Indem die serbischen Erfahrungen in der Region geteilt werden, besteht die Hoffnung, dadurch einen Dominoeffekt auszulösen, damit andere Länder dem schließlich folgen – jeweils in ihrem eigenen Tempo.

„Der Mangel an qualifizierten Arbeitnehmer:innen ist tatsächlich eine große Herausforderung und eine berufliche Ausbildung könnte die Antwort darauf sein“, meinte Semir Hadžalić, stellvertretender Direktor der Abteilung für rechtliche und allgemeine Angelegenheiten bei der staatlichen Lotterie von Bosnien und Herzegowina. „Die berufliche Ausbildung besitzt das Potenzial, ein wichtiger Faktor in der wirtschaftlichen Entwicklung zu werden und die Jugendarbeitslosigkeit zu verringern. Dazu sind jedoch kontinuierliche Reformen, Investitionen und eine bessere Zusammenarbeit zwischen dem Bildungssystem und der Wirtschaft notwendig.“ Die aktuellen Schlüsselindustrien in Südosteuropa sind das Bauwesen und das verarbeitende Gewerbe, die IT sowie der Tourismus und das Gastgewerbe. Und in allen diesen Branchen herrscht ein Mangel. Entweder aufgrund des Mangels an qualifizierten Arbeitnehmer:innen oder weil die Menschen in die EU abwandern. Dies hat gewaltige wirtschaftliche Auswirkungen. „Zu den möglichen Lösungen gehören eine bessere Bildung, höhere Löhne und verbesserte Arbeitsbedingungen, die Förderung der Rückkehr der Diaspora, die Einführung von Arbeitskräften und die Förderung des Unternehmertums. Bildung und Arbeitsmarkt sind nur schwach miteinander verknüpft“, stellte Hadžalić fest. „Ohne eine systemische Partnerschaft zwischen Bildung, Arbeitgeber:innen und Institutionen bleibt die berufliche Ausbildung nur eine Randnotiz, und der Arbeitsmarkt leidet unter den Folgen. Die Lösung liegt in der Stärkung des dualen Ausbildungsmodells, der Förderung von Unternehmen und der Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung, damit gesehen wird, dass die Ausbildungsberufe Qualität, Sicherheit und Menschenwürde bieten“, beendete Hadžalić seinen Vortrag.

Es gibt zahlreiche Faktoren auf Makro-, Meso- und Mikroebene (einschließlich Persönlichkeitsmerkmalen), die die Entscheidung der Menschen zur Migration beeinflussen. Allerdings sind im Westbalkan „wirtschaftliche Beweggründe“ die Hauptursache“, so Ksenija Ivanović, Doktorandin und Projektleiterin für HEU „Global Strategy for Skills, Migration and Development“ (GS4S) Radboud Universität. „Die GS4S-Forschung untersucht die Rolle des Qualifikationsmangels bei Migrationsbestrebungen und bei Zielortpräferenzen in den folgenden drei Ländern: Albanien, Bosnien und Herzegowina sowie Serbien.“ Die Migrationsbestrebungen sind in den drei untersuchten Ländern sehr hoch, wobei Deutschland das beliebteste Zielland ist. Man sollte anerkennen, dass der Arbeitskräftemangel sowohl im Zielland als auch im Herkunftsland einen Anreiz für Migration darstellt. Nachfrage schafft Möglichkeiten. „Es ist wichtig zu verstehen, warum und wo ein Qualifikationsmangel auftritt“, so Ivanović. „Und dass Migration nicht unbedingt dauerhaft sein muss“, schloss sie. 

„Der Westbalkan ist mit einigen großen Herausforderungen konfrontiert. Die Abwanderung von Arbeitskräften ist nur eine davon. Dazu gehört auch die Produktivität. Wenn wir uns die verschiedenen Länder anschauen, wird deutlich, dass diese Länder mehr importieren als sie exportieren. Dies hat gewaltige Auswirkungen auf die Wirtschaftssysteme“, so Goran Đukanović, Richtlinienbeauftragter bei „Prva Banka Crne Gore“. Eine dieser Auswirkungen ist die hohe Arbeitslosenquote in allen Altersgruppen. Bemerkenswert ist, dass Bosnien und Herzegowina und Nordmazedonien dabei herausragen. Dies wird auch deutlich, wenn man sich die Migrationszahlen anschaut. Diese Zahlen waren in den vergangenen Jahrzehnten für Bosnien und Herzegowina extrem hoch. Strukturelle Änderungen sind unerlässlich, um die Dinge zu verbessern. Der Ansatz zum Umgang mit der institutionellen und demografischen Krise sowie die Bildungsstruktur sollten sich ändern, schloss Đukanović seinen Vortrag.

Konzentriert man sich auf Bosnien und Herzegowina, sind die Herausforderungen sehr besorgniserregend. Hier einige desillusionierende Zahlen. Zwischen 2015 und 2023 verließen mehr als 1,5 Millionen Menschen den Westbalkan. 500.000 dieser Menschen kamen aus Bosnien und Herzegowina. 70 % der jungen Menschen in Bosnien und Herzegowina überlegen, das Land zu verlassen. Mehr als 5.000 Ärzt:innen haben Bosnien und Herzegowina zwischen 2013 und 2020 verlassen. „Neben den offensichtlichen Gründen für die Abwanderung besteht auch noch das Problem der politischen Instabilität. Instabilität und Korruption fördern die Abwanderung“, erklärte Minka Rešidbegović, Präsidentin des Unabhängigen Gewerkschaftsverbandes der Arbeitnehmer:innen in Finanzorganisationen (SSRFOFBiH). Der Weggang junger Menschen führt zu einem Rückgang der Geburtenrate, einer alternden Bevölkerung und einer Entvölkerung der ländlichen Gebiete. „Es wird prognostiziert, dass die Balkanländer weiter Arbeitskräfte verlieren werden, sofern keine bedeutenden Wirtschaftsreformen angestrengt werden. Die Bewältigung des Problems der Abwanderung von Arbeitskräften erfordert eine Koordinierung zwischen Regierungen, Arbeitgeber:innen und Bildungseinrichtungen“, schloss Rešidbegović.

Bei der zweitägigen Konferenz wurde sehr deutlich, dass es beim Arbeitskräftemangel viele Herausforderungen auf vielen Ebenen gibt. Der Westbalkan ist mit einigen spezifischen Bedingungen konfrontiert, die es schwer machen, dem Trend des Arbeitskräftemangels und der Migration entgegenzuwirken. Auf wirtschaftlicher und politischer Ebene stehen die Länder vor vielen Herausforderungen, die eine Koordinierung erfordern. Es werden zwar entsprechende Schritte unternommen, Verbesserungen brauchen aber Zeit. Estland und Polen als Länder, die vor einigen Jahren noch in einer ähnlichen Lage waren, können als gutes Beispiel dienen. Die Menschen kehren dort langsam in ihr jeweiliges Herkunftsland zurück. Es hat zwar viele Jahre gedauert, aber in den Ländern des Westbalkans wird es genauso sein.

Empfehlungen

  • Es sollte unaufhörlich betont werden, dass die Bewältigung des Problems der Migration der Arbeitskräfte eine Koordinierung zwischen Regierungen, Arbeitgeber:innen und Bildungseinrichtungen erfordert.

  • Die Zusammenarbeit zwischen allen Interessengruppen (Regierung, Universitäten und Unternehmen usw.) sollte verbessert werden und kann dabei helfen, junge Nachwuchskräfte auszubilden und zu beschäftigen.

  • Die Investitionen in eine frühzeitige Entwicklung und eine formale Ausbildung für Arbeitnehmer:innen sollten verbessert und aufgestockt werden.

  • Reformen in allen Bereichen, die mit dem Arbeitsmarkt zusammenhängen, werden schnell erfolgen müssen. Die Initiative „Offener Balkan“ stößt auf Umsetzungslücken. Es werden zwar die Symptome behandelt, aber nicht die grundlegenden Ursachen.

  • Datenlücken und eine schlechte Koordinierung sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene erschweren eine wirksame Reaktion. Regionale Initiativen sind zwar vielversprechend, reichen aber nicht aus.

  • Es sollte eine bessere Abstimmung von Nachwuchskräften und Arbeitsplätzen im Westbalkan (und zwischen den einzelnen Regionen) geben.

  • Positive berufliche Wege und höhere Qualität der Beschäftigung. Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben sowie Ausbildungsmöglichkeiten sind wichtig.

  • Aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen sollten lebenslanges Lernen und Umschulungen bzw. Weiterbildungen fördern und dabei die Bedürfnisse unterschiedlicher Gruppen berücksichtigen.

  • Die Strategien für die Entwicklung von Qualifikationen und für lebenslanges Lernen in vorrangigen Sektoren sollten im Einklang mit der allgemeinen Entwicklungspolitik und -agenda stehen.

  • Zusätzlich zu Maßnahmen, die beispielsweise auf die Verbesserung der Beschäftigungsqualität oder der Ausbildungsmöglichkeiten abzielen, ist es unerlässlich zu ermitteln, wo ein Qualifikationsmangel besteht, und dann zielgerichtetere Anstrengungen zu unternehmen.

  • Die Abwanderung lässt sich bis zu einem gewissen Grad zwar nicht vermeiden, sie muss aber auch nicht unbedingt dauerhaft oder negativ sein. Während wir danach streben, die Lebensbedingungen im Westbalkan zu verbessern, sollten die Bemühungen der Politik eine Verbindung zwischen den im Ausland lebenden Menschen und der Gesellschaft im Westbalkan fördern und so die Migration als Hilfsmittel zur Entwicklung von Qualifikationen strategisch betrachten.