Vom 8.-10. Oktober 2025 fand in Sofia/Bulgarien ein Seminar zum Thema „Die Stimme der Arbeitnehmer:innen für menschenwürdige Arbeitsplätze in den EU-Beitrittskandidatenländern – Gewerkschaftspolitik in Zeiten des Wandels“ statt, das von PODKREPA CL (Confederation of Labour PODKREPA) in Zusammenarbeit mit dem EZA organisiert und von der Europäischen Union finanziert wurde. Das Seminar fand im Rahmen des EZA-Sonderprojektes für Arbeitnehmerorganisationen in den Bewerberländern statt. 40 Vertreter:innen von Arbeitnehmerorganisationen aus Bulgarien, Belgien, Österreich, Polen, Serbien, Nordmazedonien und Albanien nahmen am Seminar teil.
Die Ziele des Seminars waren:
1. Schaffung von Gelegenheiten für gegenseitiges Lernen und den Austausch von Fachwissen zwischen den Gewerkschaften aus den EU-Mitgliedstaaten und -Bewerberländern über die Möglichkeit, den sozialen Dialog zu fördern und die Sozialpartnerschaft zu stärken.
2. Erweiterung des Wissens und der Kompetenzen von Gewerkschaftsführer:innen und Expert:innen aus den EU-Bewerberländern für eine Zusammenarbeit und Verhandlungen mit Regierungen und Arbeitgeber:innen.
3. Erweiterung der Möglichkeiten für eine Einbindung der Gewerkschaften bei der Überwachung und Umsetzung der EU-Beitrittspolitik.
Beschreibung des Seminars
Das Programm des Seminars war in acht Podiumsdiskussionen gegliedert, und zwar folgendermaßen:
Podiumsdiskussion mit Begrüßung & Vorstellung, darunter:
- offizielle Ansprachen und Botschaften,
- Grundsatzrede zu der Frage, was auf dem Weg zum Beitritt in die EU am wichtigsten ist?
- Einblicke von Expert:innen in die Vorteile und Herausforderungen der EU-Mitgliedschaft,
zweite Podiumsdiskussion: Die EU-Mitgliedschaft ist eine strategische Entscheidung für Stabilität und Wohlstand.
- Einführung in das Thema,
- Betrachtung der positiven Auswirkungen des sozialen Dialogs durch Expert:innen – die Rolle von Schlichtungen und Schiedsverfahren für eine gütliche Beilegung von Arbeitskonflikten,
dritte und vierte Podiumsdiskussion mit nationalen Beiträgen zum aktuellen Stand des sozialen Dialogs in den teilnehmenden Ländern,
fünfte Podiumsdiskussion:
- Grundsatzrede zur Alterung der Bevölkerung und zu flexiblen Wegen in den Renteneintritt in Europa,
- Runder Tisch zum Thema: „Dialog ist der beste Weg zur Lösung von Problemen.“
sechste Podiumsdiskussion mit einer Brainstorming-Sitzung zu den zentralen Faktoren für die Qualität von Tarifverhandlungen auf nationaler und sektoraler Ebene,
abschließende Podiumsdiskussion zur Zusammenfassung und Bewertung.
Die zentralen Ideen
Die Europäische Union ist ein einzigartiges und sehr erfolgreiches Mittel zur Bewältigung von Konflikten, die bei der Erarbeitung gemeinsamer und kohärenter Antworten auf ihrer beispiellosen Einheit aufbaut. In diesem Sinne bedeutet ein Betritt zur EU nicht nur, die Mitgliedschaftskriterien zu erfüllen, sondern auch, eine bestimmte Reihe öffentlicher Werte zu unterstützen, die in den vorwiegenden institutionellen Verfahren der EU als wirksames Instrument zur Erreichung des sozialen Wandels weit verbreitet sind. Daher ist die Annahme der EU-Werte eine entscheidende Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der EU, ein Wendepunkt hin zu Stabilität und sozialem Fortschritt. Offensichtlich stehen die Institutionen nicht auf der Seite der Arbeitnehmer:innen. Dementsprechend ist es die Aufgabe der Gewerkschaften, sich entschlossen für die Verteidigung von Demokratie am Arbeitsplatz, sozialer Gerechtigkeit und Gleichberechtigung einzusetzen. Daher ist der Beitrittszeitraum für die Gewerkschaften der Moment, um aktiv zu werden und ihre Strategien neu auszurichten und um mehr Kompetenzen, Stärke und Solidarität zu zeigen.
In diesem Kontext bedeutet die Bekenntnis zu den demokratischen Werten der EU nicht nur, für den Dialog, die Partnerschaft, Tarifverhandlungen und den Schutz offen zu sein, sondern sie auch wirksam anzuwenden, also zu fördern. Dies sind die zentralen Mittel, die die Gewerkschaften befähigen, die Demokratie am Arbeitsplatz zu verteidigen, Arbeitnehmer:innen zu ermächtigen, das richtige Gleichgewicht zwischen den zu verhandelnden Prioritäten zu finden und bei Bedarf kollektive Maßnahmen zu ergreifen oder Kompromisse zu erzielen. Kurz gesagt: Der soziale Dialog ist ein Bekenntnis zur Demokratie. Durch ihn bindet die arbeitenden Bevölkerung demokratische Verfahren in ihren Alltag ein. Indem sie feststellen, was sie in ihrer Unterschiedlichkeit eint, und indem sie Maßnahmen ergreifen, um konkrete Verbesserungen zu erzielen, erhalten sie ein Gefühl der Selbstbestimmung und Kontrolle über ihr Leben.
Der soziale Dialog in den EU-Bewerberländern wird ignoriert. Die politischen Entscheidungsträger:innen erkennen seinen Wert und seine spezifische Wirksamkeit nicht angemessen an. Nationale Regierungen sind darüber hinaus bei der Institutionalisierung, Unterstützung des und Ermutigung zum sozialen Dialog eher passiv. In dieser Situation reicht die Verabschiedung gesetzlicher Normen zur Gewährleistung der Rolle der Gewerkschaften und des Rechts auf kollektiven Schutz/Tarifverhandlungen nicht aus. Das liegt daran, dass in der Praxis zwar Strukturen für eine dreigliedrige Zusammenarbeit auf nationaler Ebene aufgebaut wurden, sie aber rein formal bleiben und nur der „Wiedergabe des Gesetzes“ dienen. Was den zweigliedrigen Dialog angeht, so ist dieser sehr schwach und so gut wie nicht vorhanden. Offensichtlich sind viele Anstrengungen und Verpflichtungen notwendig, um die Formalitäten in den Gewerkschaftstätigkeiten zu überwinden und das Vertrauen der arbeitenden Bevölkerung zu gewinnen. Nur die Kombination aus tatsächlicher Durchsetzung einer starken Rechtsgrundlage zur Institutionalisierung des sozialen Dialogs und der aktiven Einbindung aller Parteien wird den Gewerkschaften ein grundlegendes Vertrauen und Einfluss in der Gesellschaft garantieren – und so ihre sinnvolle Einbindung in den Beitrittsprozess sicherstellen.
Es wäre ein Fehler, den Beitrittsprozess nur als eine technische Angelegenheit zu betrachten. Das liegt daran, dass eine erfolgreiche Integration dahingehend Veränderungen erfordert, wie eine Zivilgesellschaft funktioniert, gemeinsam mit einer spürbaren Verbesserung des Lebensstandards. Während sich die Gewerkschaften die Anliegen der arbeitenden Bevölkerung anhören und sich um ihre Bedürfnisse kümmern, sind sie als Organisationen auch verpflichtet, für die Stärkung demokratischer Strukturen zu sorgen und das Prinzip der partizipativen Demokratie durchzusetzen. In dieser Hinsicht sollten sich die Bewerberländer auf die Erarbeitung der administrativen und regulatorischen Rahmenwerke konzentrieren, die für eine partizipative Regierungsführung und eine integrative politische Entscheidungsfindung notwendig sind, um die Autonomie und Unabhängigkeit der nationalen Sozialpartner zu bewahren. Die Aufstellung klarer und transparenter Kriterien für die Repräsentativität und demokratischer Strukturen für den sozialen Dialog wird ihre Integration in das europäische Sozialmodell beschleunigen.
Der Prozess der europäischen Integration erfordert jedoch auch die Unterstützung der Bürger:innen. Mehr als zwei Jahrzehnte nach Beginn der Erweiterungspolitik sind jedoch nur sehr wenige Fortschritte zu verzeichnen. Aus diesem Grund sind die Bürger:innen in den Bewerberländern inzwischen skeptisch, was die Zukunft und die Möglichkeit des Prozesses der europäischen Integration angeht, um eine politische und wirtschaftliche Konsolidierung zu erreichen und um eine deutliche Verbesserung der Erwartungen und Lebensqualität sicherzustellen. Die sichtbarste Konsequenz dieser Situation ist der weiter zunehmende Anteil der Bevölkerung, der als individuelle Lösung für ihren Mangel an politischen, sozialen und wirtschaftlichen Perspektiven an eine Auswanderung denkt.
Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Die Europäische Union ist das erfolgreichste Integrationsexperiment der Menschheitsgeschichte. Letztlich stellt die EU-Erweiterung eine wertvolle Chance für die Bewerberländer dar und hat im letzten Jahr an Dynamik gewonnen, mit dem primären Fokus auf bedeutenden geopolitischen Zielen. Der Fokus auf die politischen Ziele ist offensichtlich. Gleichzeitig werden aber nach wie vor wichtige Angelegenheiten wie wirksame Strukturen des sozialen Dialogs, Verfahren und Partnerschaften vernachlässigt. Um am leistungsbasierten Modell der Erweiterungspolitik festhalten zu können, werden die Bewerberländer in diesen Bereichen allerdings Reformen vorantreiben und greifbare Ergebnisse präsentieren müssen. Andernfalls wird die Vollmitgliedschaft nicht Realität werden können.
Die EU-Integration und -Mitgliedschaft sind ein nationales Interesse und strategisches Bekenntnis der Bewerberländer. Die intensive Einbindung der Gewerkschaften in alle Phasen des EU-Beitritts auf nationaler Ebene muss in den kommenden Jahren daher ein wesentlicher Teil des Prozesses werden, insbesondere bei der Gestaltung der Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Neben der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik müssen die Gewerkschaften aus den Bewerberländern im Kontext der Globalisierung, Digitalisierung und moderner technologischer Veränderungen auch auf die Zukunft blicken, vor allem auf die Zukunft der Arbeit. Sie müssen die Gewerkschaftstätigkeiten an die neuen Realitäten in der Arbeitswelt anpassen. In diesem Sinne ist die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften aus den EU-Mitgliedstaaten äußerst wichtig und wird zu einer erfolgreichen Realisierung ihrer Ziele beitragen.
Auch wenn die Gewerkschaften aus den Bewerberländern ihren Fokus weiterhin auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen legen, müssen sie der Situation junger Arbeitnehmer:innen besondere Aufmerksamkeit widmen. Die jungen Menschen in den Bewerberländern zahlen einen hohen Preis für jahrelange Untätigkeit und den Mangel an Unterstützung durch die nationalen Regierungen. Infolgedessen betreten sie die Arbeitswelt unter schlechten Arbeitsbedingungen und einem verringerten Zugang zu Ausbildungsplätzen, während sie in schlecht bezahlten, unsicheren und qualitativ schlechten Arbeitsverhältnissen gefangen sind. Ihre grundlegenden Rechte am Arbeitsplatz sind nicht geschützt. Diese Kombination aus Faktoren erfordert dringende Maßnahmen seitens der Gewerkschaften, um den entstandenen Schaden zu beheben und um sicherzustellen, dass junge Menschen Zugang zu qualitativ hochwertiger, gut bezahlter Arbeit sowie Möglichkeiten zur Ausbildung, zum Aufstieg und zur Weiterentwicklung haben.
Es sind Anstrengungen erforderlich, um die Kompetenzen der Gewerkschaften zu Tarifverhandlungen und zur Mobilisierung weiter zu verbessern, insbesondere auf sektoraler/Branchenebene. Zur Umsetzung einer wirksamen Strategie zum Kompetenzaufbau/zur Organisierung ist zuerst eine Analyse der Stärken und Schwächen notwendig, zusammen mit einer evidenzbasierten Bewertung, wo das größte Wachstumspotenzial liegt. Auf diese Weise werden die bereits bestehenden Dialogstrukturen und potenzielle Mitglieder angemessen abgebildet. Zusätzlich müssen die Arbeitnehmer:innen sehen, dass die Gewerkschaften für Fairness am Arbeitsplatz sorgen wollen. Ein qualitativ hochwertiges Engagement und Grundlagenarbeit sind daher der wichtigste Teil der Organisierung. Darüber hinaus ist es wichtig, sicherzustellen, dass den Arbeitnehmer:innen – sowohl Mitgliedern als auch Nichtmitgliedern – bewusst ist, was die Gewerkschaften bereits für sie erreicht haben. In diesem Sinne ist es sehr wichtig, dass die Errungenschaften und Erfolgsgeschichten der Gewerkschaften breit veröffentlicht und kommuniziert werden.
Die Gewerkschaften stehen unter Druck und sind mit unterschiedlichen Herausforderungen in der sich verändernden Arbeitswelt konfrontiert. Diese Herausforderungen finden ihre Ursachen im Wandel des Arbeitsmarktes, im technologischen Fortschritt, in dem steigenden Umweltbewusstsein der Wirtschaft, in der Informalität und in Verstößen gegen die Gewerkschaftsrechte. In dieser Hinsicht müssen die Gewerkschaften zielgerichtete Strategien erarbeiten, um ihre Mitgliederzahl zu erhöhen. Dabei sollte der Fokus auf zwei Maßnahmen liegen: der Gewinnung neuer Mitglieder und der Steigerung der Mitgliederbindung.
Als Reaktion auf die sich verändernde Natur der Arbeit müssen die Gewerkschaften eine diversere Arbeiterschaft vertreten. Um sich wirksam für diese neuen Arbeitnehmer:innen einzusetzen, müssen sich die Gewerkschaften an eine sich weiterentwickelnde Arbeitslandschaft anpassen, indem sie:
- offen sind für innovative Strategien, um auch vulnerable Arbeitnehmer:innen zu erreichen, die häufig unter prekären Arbeitsbedingungen arbeiten,
- marginalisierten Gruppen Unterstützung und Vertretung anbieten,
- damit beginnen, Arbeitnehmer:innen aus der Digitalwirtschaft zu vertreten,
- die Kommunikationskanäle zu den Mitgliedern und zur breiten Öffentlichkeit verbessern,
- Allianzen bilden, gemeinsame Maßnahmen anstrengen und sich über Initiativen austauschen, um der kollektiven Stimme mehr Gehör zu verschaffen.