EZA MAGAZINE
EZA PODCAST

Sozialpartnerschaft – ein wichtiges Instrument, um eine Brücke für spürbare Veränderungen im Westbalkan zu schlagen

Vom 30. Oktober bis 1. November 2024 fand in Sofia/Bulgarien ein Seminar zum Thema „Sozialpartnerschaft – das zentrale Mittel für den Brückenschlag zu spürbaren Veränderungen auf dem Westbalkan“ statt. Das Seminar wurde vom Gewerkschaftsbund PODKREPA in Zusammenarbeit mit dem EZA organisiert und von der Europäischen Union finanziert. Es nahmen 36 Vertreter:innen von Arbeitnehmerorganisationen aus Bulgarien, Spanien, Österreich, Serbien, Albanien, Frankreich, Rumänien und der Republik Nordmazedonien an diesem Seminar teil, das im Rahmen des EZA-Sonderprojekts für Arbeitnehmerorganisationen in den Beitrittskandidatenländern organisiert wurde.

Beschreibung des Seminars

Das Seminar begann mit einer Eröffnungssitzung mit Begrüßungsansprachen und Eröffnungsvorträgen. Darin wurden die aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität in Europa thematisiert und der positive Einfluss der Sozialpartnerschaft und des sozialen Dialogs auf die Angleichung der unterschiedlichen Interessen und die Erzielung eines breiten öffentlichen Konsenses hervorgehoben. Direkt nach der Eröffnungsveranstaltung wurden die allgemeinen Ziele des Seminars vorgestellt: 

  1. Bekämpfung des Mangels an einer Dialogkultur und Förderung der Sozialpartnerschaft als wesentliche Voraussetzung für den Integrationsprozess des Westbalkans in die EU. 

  2. Förderung von Mechanismen für Zusammenarbeit und Dialog zwischen den wirtschaftlichen und sozialen Akteuren in der Region. 

  3.  Stärkung von strategischen und kreativen Denkweisen in Gewerkschaften für einen inklusiveren Ansatz und die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren aus der Zivilgesellschaft sowie mit Regierungsinstitutionen auf nationaler und regionaler Ebene.

Auf die Eröffnungssitzung folgten drei Vorträge von Expert:innen:

- Wege zum Ausbau der Sozialpartnerschaft auf dem Westbalkan – aufbauend auf europäischen Erfahrungen.

- Keine Europäer:innen zweiter Klasse: Die Region des Westbalkans benötigt ein stabiles politisches Umfeld, umfassende Reformen und eine stärkere regionale Zusammenarbeit. 

- Sozialpartnerschaft auf dem Westbalkan: das Beispiel Albanien.

Die anschließenden Sitzungen beinhalteten zwei Diskussionsrunden, in denen es um die Würde der Arbeit und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen ging. In diesen Diskussionen wurde der aktuelle Stand der Sozialpartnerschaft in den teilnehmenden Ländern beleuchtet.

In der Denkfabrik-Diskussionsrunde mit dem Titel „Sozialpartnerschaft in der Praxis: Solidarität, Toleranz und Respekt am Arbeitsplatz – die Rolle der Gewerkschaften“ wurden einige Erfolgsfaktoren für eine gute Sozialpartnerschaft vorgestellt, wie Vorausplanung, Vertrauen, Networking, Angleichung unterschiedlicher Interessen, Konsens für eine gemeinsame Vision, Engagement, Leitungsstrukturen und Führung. An einem runden Tisch mit dem Titel „Die Werte, die uns einen – mehr regionale Zusammenarbeit für die europäische Integration!“ sprachen die Teilnehmer:innen über Muster für die Anpassung der Sozialpartnerschaft an den lokalen Kontext unter Berücksichtigung der historischen Beziehungen zwischen den Sozialpartnern in der Region sowie über den Prozess der Integration in die EU.

Nach jeder Diskussionsrunde war Zeit für Fragen und Diskussionen eingeplant. 

Das Seminar schloss mit einer Zusammenfassung, abschließenden Bemerkungen, einer Schlussfolgerung und einer Auswertung der Ergebnisse.

Die zentralen Ideen

  • Differenzierung ist zum neuen Normalzustand in der EU als etabliertes Merkmal der europäischen Integration geworden und ermöglicht es der EU, aktuelle Herausforderungen wirksamer anzugehen. Darüber hinaus ist die Differenzierung auch mit der Debatte über die Gestaltung und Weiterentwicklung der vielfältigen Modelle zur Zusammenarbeit zwischen der EU und ihren Bewerberländern verbunden. Daher ist nun die Zeit gekommen, die konzeptionellen Mittel an die neuen politischen und institutionellen Trends anzupassen und sich von der „Schwarz-Weiß-Debatte“ weg und hin zu einem flexibleren Ansatz zu bewegen, wie dem Austausch von unterschiedlichen Haltungen, Konsultationen und Dialog.

In diesem Sinne besteht das endgültige Ziel der Sozialpartnerschaft darin, durch einen Dialog ein besseres Gleichgewicht zwischen den voneinander abweichenden – wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen – Interessen zu erzielen und wirksamere Maßnahmen umzusetzen. Dennoch ist eine vergleichbare Zusammenarbeit zwischen lokalen Regierungen und Organisationen der Zivilgesellschaft auf dem Westbalkan noch immer nicht weit genug entwickelt. Der Gesetzgebungsrahmen garantiert Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen die Vereinigungsfreiheit sowie ihre rechtliche Anerkennung. Gewerkschaften sind heutzutage zwar besser organisiert, dennoch besitzen die Arbeitgeber:innen häufig die Macht, die politische Entscheidungsfindung zu beeinflussen. Bestehende Rechtsnormen räumen nur formell Hindernisse für den Abschluss von Tarifverträgen aus dem Weg und gewähren ein formales Streikrecht. 

  • Die größten Probleme, mit denen die Sozialpartner in der Region zu kämpfen haben, hängen mit einem unfreundlichen institutionellen Umfeld und einem schlechten Informationsfluss zusammen, verbunden mit geringen Kompetenzen bei Verhandlungen und zur Erzielung eines Konsenses. Diese Ausgangssituation hindert sie daran, für einen sozialen Wandel einzutreten, und begrenzt ihre Fähigkeit, die politische Entscheidungsfindung zu beeinflussen.

  • Darüber hinaus sind die angewendeten Modelle zur Zusammenarbeit oft unzureichend und diskriminierend und tragen nicht zur angemessenen Positionierung bzw. zu einem größeren Einfluss der Sozialpartner in den Gemeinschaften bei. In der Praxis schränkt diese Situation die Weiterentwicklung einer partizipativen Demokratie ein. In diesem Kontext stehen die Sozialpartner in der Region schwach und zersplittert da, und ein Dialog zwischen ihnen ist meist „illusorisch“.

  • Die größte Herausforderung für die Gewerkschaften in der Region ist der Rückgang bei den Mitgliederzahlen und die abnehmende direkte Vertretung der Arbeitnehmer:innen, während die Arbeitgeberverbände nicht konsolidiert sind und lieber Lobbyarbeit betreiben als am Verhandlungstisch zu sitzen. In diesem Kontext errichten nationale Regierungen in der Regel dreigliedrige Gremien, die sich beteiligen sollen:

- an der Umsetzung von Vorschriften zu den Arbeitnehmerrechten während des EU-Beitrittsprozesses; 

- an der wirtschaftlichen Entscheidungsfindung in Krisenzeiten, an der Festlegung von Mindestlöhnen, Arbeitsbedingungen und eines Mindestmaßes an sozialer Sicherung;

- an der Suche nach einer gemeinsamen Lösung für ein bestimmtes Problem;

Allgemein verringert die Bewältigung von beschäftigungsbezogenen Problemen durch legislative Lösungen die Einflussmöglichkeiten von Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen bei diesen Fragen. In der Praxis ist der Raum für Konsultationen sehr begrenzt und ein wirksamer sozialer Dialog besteht nicht. Daher bleibt der Einfluss dieser dreigliedrigen Gremien gering und ist durch einen Mangel an vertrauenswürdigen Mitteln zur politischen Entscheidungsfindung und an sichtbaren Ergebnisse gekennzeichnet. Diese Situation ermöglicht es den Regierungen in der ganzen Region nicht nur, die individuellen und kollektiven Rechte der Arbeitnehmer:innen zu untergraben, sondern trägt auch dazu bei, das Ansehen der Sozialpartner weiter zu verschlechtern.

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

  • Der Beitritt zur EU ist ein vorherrschendes Paradigma für die politische Entscheidungsfindung in den Ländern des Westbalkans. Zur selben Zeit jedoch stellen die Umsetzung fälliger Reformen und die Bemühungen zur Erfüllung der Erweiterungskriterien große Herausforderungen für die Region dar, insbesondere in unserer heutigen zunehmend diversen, dynamischen und unsicheren Welt. Es ist offensichtlich, dass es der Politik alleine nicht gelingen würde, diese Herausforderungen zu bewältigen. Daher ist die Unterstützung der Zivilgesellschaft entscheidend. Das macht die Sozialpartnerschaft zu einer Notwendigkeit. Denn nur durch gemeinsame Anstrengungen und auf der Grundlage gemeinsamer Werte werden die Gesellschaften auf dem Westbalkan Fortschritte machen können. Es ist wichtig hervorzuheben, dass eine effiziente Sozialpartnerschaft ohne ein starkes und eindeutiges Bekenntnis zu den allgemein gültigen Werten von Demokratie und Solidarität sowie zur vollständigen Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit nicht möglich ist. Die abnehmende Solidarität am Arbeitsplatz, womit die Bereitschaft und Fähigkeit gemeint ist, sich für einen kollektiven Schutz von Rechten zu organisieren, steht bei der Beschreibung der vielen Herausforderungen, mit denen die Gesellschaften auf dem Westbalkan auf ihrem Weg zur EU-Mitgliedschaft konfrontiert sind, im Zentrum. 

  • Darüber hinaus ist es für die Region auch entscheidend, das Vertrauen in demokratische Institutionen wiederherzustellen, um die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert ist, bewältigen zu können und um eine wohlhabende und geeinte Zukunft für ihre Bürger:innen sicherstellen zu können. Vertrauen ist das Bindeglied, das die Bürger:innen zusammenhält. Es ist die Kraft des Sozialvertrages und der Grundpfeiler der Demokratie. Vertrauen fördert Zusammenarbeit, stärkt den sozialen Zusammenhalt, erleichtert die Umsetzung politischer Maßnahmen und ermutigt zu öffentlichem Engagement und einer Beteiligung der Öffentlichkeit. Ohne Vertrauen riskieren die Gesellschaften eine Zersplitterung, von der der Populismus profitiert und die die soziale Stabilität in Zeiten der Konfrontation untergräbt.

  • Gewerkschaften sind sich der Bedeutung der Aufrechterhaltung der höchsten Standards für ethisches Verhalten und für Transparenz in der Sozialpartnerschaft absolut bewusst, nicht nur als moralisches Gebot, sondern als wesentliches Mittel zur Sicherung der Integrität der Gesellschaften auf dem Westbalkan. Das ist nicht nur in der Geschichte der Gewerkschaften begründet, sondern in dem, wofür Gewerkschaften heute stehen – Solidarität, Gleichberechtigung, Verbesserung der Lebensbedingungen, soziale Gerechtigkeit und Chancen für alle erwerbstätigen Menschen. 

  • Klar ist aber auch, dass Arbeitnehmerorganisationen in der gesamten Region bessere Kompetenzen entwickeln und ein stärkeres Fundament für die Sozialpartnerschaft bauen müssen. Um bestehende Lücken wirksam schließen zu können, müssen eine neue Organisationskultur, Schulungen und ein langfristiges Bekenntnis zum Dialog umgesetzt werden.  In diesem Sinne könnten Gewerkschaften ihre Fähigkeit zur wirksamen Kommunikation und Zusammenarbeit mit anderen sozialen Akteuren, institutionellen Gremien und Arbeitgeber:innen verbessern – allein, indem sie bestehende Verfahren analysieren, Bereiche mit Verbesserungsbedarf ermitteln, maßgeschneiderte Schulungsprogramme entwickeln und Verhaltensänderungen bewirken.

  • Aus der Sicht der Gewerkschaften haben die folgenden Bereiche mit Verbesserungsbedarf in Bezug auf die Sozialpartnerschaft auf dem Westbalkan die höchste Priorität:

  • Ergebnisse und Transparenz: Die Institutionen der Sozialpartnerschaft müssen ihre Kommunikation mit den Bürger:innen verbessern und sich dabei ihre Sorgen aktiv anhören, ortsbezogene Maßnahmen entwickeln und eine klare und gleichbleibende Botschaft zu den wichtigsten Maßnahmen und Entscheidungen sicherstellen.

  • Wiedergewinnung des öffentlichen Vertrauens und Einhaltung von Versprechen: Umgesetzte Richtlinien müssen nicht nur das Leben der Bürger:innen verbessern, sondern auch regionale Ungleichheiten und gemeinsame Herausforderungen bewältigen können. 

  • Bekämpfung von Desinformation und Manipulation: Der Kampf gegen die Manipulation von Informationen ist entscheidend. Dies erfordert die Zusammenarbeit zwischen Regierungen, den Massenmedien und den Organisationen der Zivilgesellschaft, um die Verbreitung von Fehlinformationen eingrenzen und ein verantwortungsbewusstes soziales Verhalten fördern zu können.

  • Priorisierung des sozialen Zusammenhalts und Überbrückung der Kluft zwischen den lokalen Gemeinschaften. Dazu gehören auch die Unterstützung gemeinsamer Maßnahmen erwerbstätiger Menschen, der Austausch zu beschäftigungsbezogenen Fragen und die Förderung des bürgerlichen Engagements zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Identitätsgefühls.

  • Die Länder des Westbalkans müssen sich stärker auf ihre regionale Zusammenarbeit und auf die Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fokussieren. Gleichzeitig sind auch mehr Kreativität, Wachsamkeit und größerer Druck gefragt, um Probleme wie Armut unter Arbeitnehmer:innen, Kriminalität, Korruption und Einwanderung bewältigen zu können. Darin liegt die wichtigste Voraussetzung für die Umwandlung der Methoden der Sozialpartnerschaft in der Region in spürbare Vorteile für Arbeitnehmer:innen und strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft.

Das langsame Tempo der Erweiterung der Europäischen Union auf dem Westbalkan kann dem Umstand zugeschrieben werden, dass die Region es versäumt hat, in den wichtigsten Bereichen, also bei demokratischen Institutionen, Rechtsstaatlichkeit, der Bekämpfung von Korruption und dem Schutz von Minderheiten, sichtbare Fortschritte hinsichtlich der Erfüllung der Kriterien für den EU-Beitritt zu machen. Im Bereich der Wirtschaft erfordert die Beschleunigung der Konvergenz des Pro-Kopf-Einkommens mit der EU weitere Wirtschaftsreformen im Inland und eine schnellere Integration innerhalb der Regionen. Darüber hinaus weisen die Länder des Westbalkans weiterhin zahlreiche sozio-ökonomische Schwachstellen auf, darunter hohe Abwanderungs- und Arbeitslosenquoten, insbesondere bei jungen Menschen, sowie ein geringer Anteil erwerbstätiger Frauen.  In diesem Kontext, der durch eine politische Polarisierung und eine schlechte Konsenskultur gekennzeichnet ist, stellt der Aufbau einer wirksamen Sozialpartnerschaft auf dem Westbalkan eine komplexe Herausforderung ohne einfache Lösungen dar. Nur durch gemeinsame Anstrengungen der nationalen Regierungen und der Zivilgesellschaft sowie durch die Zusammenarbeit zur Überwindung unterschiedlicher Ansichten können die Länder in der Region Fortschritte bei der europäischen Integration erzielen.