Am 24. September 2024 fand online eine „Snack Debate“ des EZA in Zusammenarbeit mit WOW (World Organisation of Workers) und Krifa (Kristelig Fagbevægelse) statt, die von der Europäischen Union finanziert wurde. Thema war „Die Zukunft der EU-Sozialpolitik unter der neuen von der Leyen-Kommission“, genauer gesagt die Erklärung von La Hulpe, die europäische Säule sozialer Rechte und die Prioritäten der neuen Kommission.
Die Erklärung von La Hulpe über die Zukunft der europäischen Säule sozialer Rechte wurde am 16. April 2024 unterzeichnet. Während der Konferenz diskutierten politische Entscheidungsträger:innen, Interessenvertreter:innen und Expert:innen über die Zukunft der europäischen Säule sozialer Rechte. Es ging darum, wie sie in den kommenden Jahren am besten umgesetzt werden kann.
Die europäische Säule sozialer Rechte ist 2017 ins Leben gerufen worden. Auf dem EU-Gipfel in Göteborg erörterten das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission die 20 wichtigsten Grundsätze, die uns den Weg zu einem starken und sozialen Europa weisen sollen. Diese Verpflichtung wurde 2021 erneut bekräftigt. Die Konferenz in La Hulpe war die jüngste Bekräftigung dieser Verpflichtung.
Die Unterzeichnung der Erklärung von La Hulpe hat vielen Menschen Hoffnung auf ein stärkeres soziales Europa gemacht. Nach den Europawahlen und der Bildung der neuen Kommission scheint sich der Schwerpunkt jedoch verlagert zu haben. Dies wurde durch den „Draghi-Bericht“ noch bekräftigt. Wettbewerbsfähigkeit scheint zum neuen Mantra der nächsten Legislaturperiode geworden zu sein, und die Sozialpolitik läuft Gefahr, in den Hintergrund zu geraten.
Dies wirft eine Reihe von Fragen über die Ausrichtung Europas auf. Francesco Corti, Berater des belgischen Ministers für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten und eine Schlüsselfigur hinter der Erklärung von La Hulpe, wurde eingeladen, seine Erkenntnisse mit uns zu teilen. In einem einstündigen Treffen erläuterte er die Geschichte der europäischen Säule sozialer Rechte und die Ziele der Erklärung von La Hulpe, die aktuelle Situation nach den Europawahlen sowie seine Erwartungen für die Zukunft.
Das Arbeitsprogramm der letzten Legislaturperiode der Europäischen Kommission (2019-2024) war sehr sozial ausgerichtet. Die Sozialpolitik (alle mit ins Boot nehmen) hatte Priorität. Auf die Frage, wie er die vorangegangene Legislaturperiode bewerten würde, antwortete Herr Corti: „Es stimmt, dass der Schwerpunkt eher darauf lag, alle miteinzubeziehen und niemanden zurückzulassen. Dies führte in vielerlei Hinsicht sicherlich zu positiven Ergebnissen. Es wurden jedoch noch nicht alle Ziele erreicht, und in einigen Fällen wurde klar, dass diese nicht vor den gesetzten Fristen erreicht werden können. Dazu gehört der europäische Grüne Deal.
Bei zwei weiteren Prioritäten (ein Europa, das für das digitale Zeitalter gewappnet ist, und eine Wirtschaft, die für die Menschen arbeitet) sehen wir ebenfalls, dass wir uns noch weiter verbessern müssen. Man kann also sagen, dass es im sozialen Bereich noch viel zu tun gibt. Bemerkenswert ist jedoch die Erwartung, dass sich der Schwerpunkt unter dem neuen Ratsvorsitz verlagern wird. Teilen Sie die Meinung, dass sich die Prioritäten in der nächsten Legislaturperiode verschieben werden?
„Es stimmt, dass sich die Prioritäten von denen in der letzten Legislaturperiode unterscheiden“, so Corti. „Die Prioritäten der Kommission von der Leyen II haben sich aufgrund äußerer Einflüsse erheblich verschoben. Der Krieg in der Ukraine, der Konflikt im Nahen Osten, der anhaltende und zunehmende Einfluss und die Einmischung sowohl der USA als auch Chinas sind alles Gründe für einen Paradigmenwechsel. Die drei Prioritäten für die Legislaturperiode 2024-2029 lauten: ein freies und demokratisches Europa; ein starkes und sicheres Europa; ein wohlhabendes und wettbewerbsfähiges Europa. Die aktuellen Prioritäten verdeutlichen den Wandel, der stattgefunden hat. Dies bedeutet nicht, dass soziale Rechte und das Sozialprogramm nicht mehr wichtig sind. Es zeigt aber, dass die Europäische Kommission andere Themen heute für dringlicher hält“.
Das Gefühl, dass die Sozialpolitik ins Hintertreffen gerät oder zumindest weniger Beachtung findet, zeigt sich auch darin, dass es keine:n Kommissar:in für soziale Angelegenheiten mehr gibt. Stattdessen gibt es jetzt eine Exekutiv-Vizepräsidentin für Menschen, Kompetenzen und Vorsorge, die für Kompetenzen und Bildung, hochwertige Arbeitsplätze und soziale Rechte zuständig ist. In dem Wort „Vorsorge“ steckt ein Gefühl der Angst vor einer ungewissen Zukunft. Ist die Erklärung von La Hulpe mit dem vereinbar, was in den nächsten Jahren zu erwarten ist? „Ich habe das Gefühl, dass die Kluft nicht so groß ist, wie sie gerade erscheinen mag. Natürlich müssen wir abwarten, was die nächste Zeit bringen wird, aber ich habe das Gefühl, dass die Erklärung und die Erwartungen nicht stark voneinander abweichen. Auch hier ist es richtig, dass sich der Schwerpunkt verlagert hat, aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Richtung eine völlig andere ist“.
Verbunden mit der Frage der Sozialpolitik ist die Frage nach den Möglichkeiten für Sozialausgaben. Durch die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts im Jahr 2023 besteht die Befürchtung, dass die öffentlichen Ausgaben unter Druck geraten könnten. Glauben Sie, dass sich dies auf die Sozialpolitik auswirken oder sogar zu Sparmaßnahmen führen könnte?
„Nun, der Grund für die Reform ist einerseits die Gewährleistung solider und nachhaltiger öffentlicher Finanzen und andererseits die Förderung eines nachhaltigen und integrativen Wachstums in allen Mitgliedstaaten. Letzteres sollte durch Reformen und Investitionen erreicht werden. Viele EU-Länder halten die Haushaltsziele der EU nicht ein. Dafür müssten diese Länder ihre Ausgaben kürzen, um die Schuldenquote von 60 % des BIP einhalten zu können. Und das kann sehr wohl zu Kürzungen bei den Ausgaben für die Sozialpolitik führen. Ich würde sagen, dass es noch zu früh ist, um von Sparmaßnahmen zu sprechen, auch wenn die Europäische Zentralbank die Notwendigkeit von Sparmaßnahmen tatsächlich in Betracht zieht. Die Tatsache, dass wir eine alternde Bevölkerung, einen Krieg an unseren Grenzen und Klimaprobleme haben, ist dabei sicherlich nicht hilfreich. Zu erwarten ist allerdings, dass die Ausgaben für alles Soziale höchstwahrscheinlich zugunsten von Themen, die als dringender angesehen werden, zurückgehen werden“, so Corti.