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Perspektiven- und Evaluierungsseminar zum Thema „Hochwertige Arbeitsplätze und angemessene Löhne: für eine arbeitnehmerzentrierte Agenda der Gewerkschaften aus den EU-Beitrittskandidatenländern"

Vom 9.-11. März 2025 fand in Sofia / Bulgarien das Perspektiven- und Evaluierungsseminar zum Thema „Hochwertige Arbeitsplätze und angemessene Löhne: für eine arbeitnehmerzentrierte Agenda der Gewerkschaften aus den EU-Beitrittskandidatenländern” im Rahmen des Sonderprojektes für Arbeitnehmerorganisationen in den EU-Beitrittskandidatenländern statt. Das Seminar wurde von PODKREPA (Gewerkschaftsbund PODKREPA) in Zusammenarbeit mit dem EZA organisiert und von der Europäischen Union finanziert. 40 Vertreter:innen von Arbeitnehmerorganisationen aus Bulgarien, Deutschland, der Slowakei, Serbien, Albanien, der Republik Nordmazedonien, Montenegro, Bosnien & Herzegowina, Rumänien und Österreich nahmen am Seminar teil.

Ziel des Seminars

  1. Erfahrungsaustausch zwischen den EU-Mitgliedstaaten und -Beitrittsländern über die Gestaltung des sozialen Dialogs auf verschiedenen Ebenen,

  2. Unterstützung bei der Erarbeitung von Strategien zur Aufstellung umsetzbarer Methoden des sozialen Dialogs in den Beitrittsländern, die den europäischen Methoden entsprechen,

Vermittlung von Wissen über europäische Werte zur Stärkung und Ausweitung des Bewusstseins im Hinblick auf Verhaltensansätze und mögliche Lösungen im Kontext der sozialen Partnerschaft.

Beschreibung des Seminars

Das Seminar wurde mit Begrüßungsansprachen und Vorträgen zur aktuellen politischen Situation, zu den größten wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen sowie zur Zukunft des EU-Erweiterungsprozesses eröffnet. Auf die politische Sitzung folgte eine kurze Information über die derzeitige Lage, die größten Herausforderungen und die Erfolge des EZA-Sonderprojektes für Arbeitnehmerorganisationen in den EU-Beitrittsländern.

In den beiden Hauptvorträgen wurde in die Thematik eingeführt und das zentrale Thema für den Austausch zwischen den Teilnehmer:innen festgelegt:

  • die Rolle des sozialen Dialogs als wirksamer Mechanismus zur Reformierung der Zivilgesellschaft, zur Unterstützung demokratischer Institutionen und zur Einhaltung von Arbeitnehmerrechten, 

  • Demokratie am Arbeitsplatz und Beziehungen zwischen den Sozialpartnern in der EU – Herausforderungen für die EU-Beitrittsländer bei der Umsetzung von Veränderungen in der Politik und Gesetzgebung im Bereich der Beschäftigung und des Sozialschutzes. 

Zwei gesonderte Podiumsdiskussionen befassten sich mit der Bedeutung der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU und dem Einfluss der steigenden Lebenshaltungskosten auf das Verhalten der Verbraucher:innen. Der besondere Schwerpunkt dieser Podiumsdiskussionen lag auf der Notwendigkeit zur Gewährleistung eines gezielten Schutzes für die schwächsten Gruppen der Arbeitnehmer:innen.

Der zweite Tag war der nationalen Einkommenspolitik und den größten Herausforderungen für die Gewerkschaften aus den Beitrittsländern bei der Gewährleistung eines angemessenen Lebensstandards und hochwertiger Arbeitsplätze gewidmet.

Im Diskussionsforum „Die Gesetzgebung ist zwar wichtig, für die Erwerbstätigen sind allerdings der soziale Dialog und Tarifverhandlungen entscheidend“ lag der Fokus auf der Bedeutung des sozialen Dialogs im aktuellen komplexen und dynamischen Arbeitsumfeld. 

Der abschließende runde Tisch zum Thema „Die größten Probleme, Lücken und Herausforderungen für Arbeitnehmerorganisationen in den EU-Beitrittsländern“ bot Gewerkschaftsführer:innen die Gelegenheit, konkrete Vorschläge zu den folgenden Fragen zu machen:

  • Wie kann EZA Gewerkschaften bei der Verbesserung ihrer Maßnahmen weiter unterstützen?

  • Welche Art von Schulungen würden dabei helfen, ihre Kompetenzen im Bereich der Verhandlung und Beeinflussung der nationalen Beschäftigungspolitik zu stärken?

Auf das Diskussionsforum und den runden Tisch folgte eine Nachbereitungs- und Evaluierungssitzung. Nach jeder Podiumsdiskussion war Zeit für Fragen & Antworten eingeplant.  Das Seminar schloss mit einer Zusammenfassung der zentralen Diskussionspunkte und mit Vorschlägen für Themen, die im Rahmen des EZA-Sonderprojektes für Arbeitnehmerorganisationen in den EU-Beitrittsländern in den anstehenden Seminaren behandelt werden sollten.

Die zentralen Ideen

  1.  Die Erweiterungspolitik der EU hat einen doppelten Zweck. Erstens ist sie ein Fahrplan für den Wandel und eine Antwort auf dringende geopolitische Herausforderungen. Zweitens ist sie weitgehend ein leistungsorientierter technischer Prozess mit bestimmten Einheiten von abzuschließenden Verhandlungskapiteln. Dieser Prozess wird vorwiegend von der Europäischen Kommission (EK) geleitet. Der seit letztem Jahr angewendete, neue Ansatz der EK hinsichtlich der Erweiterung ermutigt Mitgliedstaaten dazu, regelmäßige Gipfeltreffen mit Beitrittsländern einzuberufen. Eine vergleichbare Kombination aus politischem Willen und administrativer Kompetenz erweckt den Eindruck, dass das Potenzial des EU-Beitrittsprozesses zunehmen wird. 

  2. Selbst im Hinblick auf die sogenannten „grundlegenden“ Kapitel stehen die Beitrittsländer in Bereichen wie der Einhaltung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Institutionen anhaltenden Problemen gegenüber. Offenbar zeichnen sich in den Beitrittsländern immer noch keine bedeutenden Verbesserungen in Bezug auf Demokratie und Zivilgesellschaft ab. Daher gibt es bei der Bekämpfung von Korruption in den zentralen/lokalen Regierungen und in staatlichen Institutionen sowie bei der Stärkung des Justizsystems noch viel Raum für Verbesserungen. Die „falsche“ Kombination aus politischer/wirtschaftlicher Vernetzung und der Vereinnahmung des Staates ist ein dringendes Problem. Politische Kämpfe und Instabilität erschweren sogar das Überleben der einfachen Menschen. In der Folge verlieren die Bürger:innen zunehmend die Hoffnung, dass sich die Situation ändern könnte, was zu Politikmüdigkeit, dem fehlenden Wunsch nach Vereinigung und einem gemeinsamen Eintreten für Rechte führt. 

  3. Seit vielen Jahren streben die Beitrittsländer danach, demokratischere Gesellschaften und funktionierende Marktwirtschaften zu erreichen, es bleibt jedoch noch viel zu tun. Die Zivilgesellschaften in den einzelnen Beitrittsländern sind immer noch zersplittert und gespalten und weisen einen niedrigen sozialen Zusammenhalt auf, was hauptsächlich durch das fehlende Vertrauen in öffentliche Institutionen und in die politische Elite ausgelöst wird. In einer sich auf ähnliche Art und Weise verschlechternden institutionellen Landschaft ist es schwierig, die Unabhängigkeit von Arbeitnehmerorganisationen zu wahren.  Der mangelnde Zugang zu Informationen, begrenzte Hilfsmittel und begrenzte Möglichkeiten zur Beteiligung an öffentlichen Debatten prägen die Einbindung der Gewerkschaften in politische Entscheidungsprozesse. Darüber hinaus schränkt diese Realität die Fähigkeit der Gewerkschaften ein, für menschenwürdige Arbeitsplätze und gute Arbeitsbedingungen einzutreten. 

  4. In einer ähnlich komplizierten Realität ist es für die Arbeitnehmerorganisationen schwierig, die große Bandbreite an miteinander zusammenhängenden Herausforderungen zu bewältigen, die den Wohlstand von Arbeitnehmer:innen bedrohen, und die Belastung durch eine unzureichende Vergütung zu überwinden, die keinen menschenwürdigen Lebensstandard zulässt und zu Armut und sozialer Ungerechtigkeit beiträgt. Zusätzlich weichen nationale Regierungen und Unternehmen beschränkende Bestimmungen auf, senken die Arbeitsnormen und schwächen den Sozialschutz, da die Beitrittsländer ausländische Investor:innen gewinnen wollen. Dies untergräbt jedoch auch die Einhaltung der Arbeitnehmerrechte, führt zur Aufrechterhaltung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und erstickt die Möglichkeit einer nachhaltigen Entwicklung.

  5. In der Folge haben Partnerschaften und Kooperationen zwischen den Sozialpartnern keine Priorität, sie bleiben begrenzt und Arbeitnehmerorganisationen bleiben schwach. Gewerkschaften bewegen sich in einem feindlichen Umfeld. Treffen zum sozialen Dialog und Tarifverhandlungen finden meist nur sporadisch und flüchtig statt und erzielen nur mäßigen Erfolg oder bringen keine konkreten Ergebnisse hervor. Gewerkschaftsvertreter:innen werden lediglich der Form halber konsultiert, ihre Ansichten werden jedoch nicht angemessen berücksichtigt. In diesem Kontext ist die Notwendigkeit zur Einbeziehung von Sozialpartnern von höchster Bedeutung. Es ist sehr wichtig, dass Arbeitnehmerorganisationen aktiv in die Entscheidungs- und Überwachungsprozesse eingebunden werden,

    um den notwendigen Reformen und Änderungen zustimmen zu können. 

  6. Zwei schwerwiegende Herausforderungen werden immer noch sehr unzureichend angegangen – der demografische Zusammenbruch und die Korruption. Die Beitrittsländer sehen sich zunehmend mit einem Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften konfrontiert, was wiederum das Interesse ausländischer Investor:innen begrenzt, zu einer schwierigen Situation für die lokalen Arbeitsmärkte führt und zusätzlichen Druck für kritische Sektoren wie den medizinischen Bereich und die Grundversorgung bedeutet. In dieser anhaltenden Abwanderungswelle gehen vor allem gut ausgebildete und qualifizierte Arbeitskräfte verloren. Vieles davon ist dem weit verbreiteten Pessimismus hinsichtlich der Zukunft und der Korruption geschuldet.

    Die Gewerkschaften aus den Beitrittsländern müssen bei den nationalen Maßnahmen und Initiativen eine führende Rolle einnehmen, um diese beiden Probleme überwinden zu können, und zwar durch: 

    - den Vorschlag und die Unterstützung umfassender und langfristiger Reformen zur Verbesserung der Voraussetzungen im Inland mit dem Fokus auf die Bedürfnisse, Forderungen und Probleme der erwerbstätigen Menschen, 

    - die Schaffung tatsächlicher Perspektiven für Arbeitnehmer:innen durch die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, beispielsweise durch sicherere Arbeitsverträge und bessere Arbeitszeiten, durch die Stärkung von Arbeitnehmerrechten und die Ausweitung des Geltungsbereiches von Tarifverhandlungen,

    - die Ergreifung sehr konkreter Maßnahmen in Sektoren, die von der Abwanderung besonders negativ betroffen sind,

    - die aktive Beteiligung bei der Erstellung und Umsetzung von Gesetzen und Strategien zur Bekämpfung von Korruption,

    - die Wachsamkeit und ständige Beibehaltung der gewerkschaftlichen Aufgabe als „Wachhund“ bei der Bekämpfung von Korruption,

    - die Durchführung von Kampagnen, um das öffentliche Bewusstsein für die Auswirkungen von Korruption zu erhöhen. 

  7. Die Beitrittsländer haben nur eine geringe Abdeckung durch Tarifverhandlungen, insbesondere im privaten Sektor, was dazu führt, dass die Arbeitnehmer:innen nur begrenzten Schutz und kaum Möglichkeiten haben, Löhne und Arbeitsbedingungen zu verhandeln. Das Problem sektoraler Tarifverhandlungen ist in allen Ländern ersichtlich. Es besteht zwar ein rechtlicher Rahmen für Tarifverhandlungen, in der Praxis und vor allem auf Unternehmensebene wird in den Tarifverträgen aber einfach nur der bestehende rechtliche Rahmen übernommen. Themen wie der Klimawandel und der technologische Wandel, Telearbeit, Teilzeitvereinbarungen oder der Kompetenzwandel sind nicht Teil der Verhandlungen.

  8. Angetrieben durch soziale, wirtschaftliche und technologische Veränderungen werden die Arbeitsmärkte flexibler. Gleichzeitig erfährt die atypische Arbeit einen Aufwärtstrend, häufig aufgrund des Mangels an gut bezahlten, hochwertigen Arbeitsplätzen. Dies überträgt sich in eine Zunahme neuartiger Beschäftigungsverhältnisse, die sich in Bezug auf Arbeitsbedingungen, Inhalt sowie regulatorische und rechtliche Auswirkungen von „traditionellen Beschäftigungsverhältnissen“ unterscheiden. Diese Arbeitsformen bieten mehr Flexibilität, weisen jedoch auch Risiken auf, die von den Gewerkschaften noch nicht angemessen angegangen wurden.

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

  1. Angesichts der aktuellen globalen geopolitischen Realitäten stellt die EU-Erweiterung eine Notwendigkeit dar. Um Mitglied werden zu können, müssen die Beitrittsländer gleichzeitig greifbare Fortschritte bei Reformen vorweisen, sich an die Werte der EU anpassen, ihre Wirtschaft umwandeln und lernen, gemeinsam nach vorne zu schauen, während dabei Unterschiede überwunden werden. Die Stärkung des sozialen Dialogs ist entscheidend für die Bewältigung sozio-ökonomischer Herausforderungen und für die Vorbereitung auf die Mitgliedschaft in der EU. In dieser Hinsicht bringt der EU-Beitrittsprozess die Gewerkschaften aus den Beitrittsländern dazu, über neue Ansätze nachzudenken, die mit ihrem Beitrag zur Entwicklung und Umsetzung der öffentlichen Politik, insbesondere bei sozialen und arbeitsrechtlichen Fragen, zusammenhängen.

  2. In den meisten Beitrittsländern gelingt es nicht, durch die von der EU-Beitrittspolitik eröffneten Chancen konsequente Auswirkungen in Bezug auf die Förderung von Bürger- und Arbeitnehmerrechten oder in Bezug auf die Unterstützung demokratischer Verfahren des Dialogs und der Partnerschaft zu erzielen. Dies liegt vorwiegend daran, dass die politische Elite und nationale Regierungen meistens nur vorgeben, Reformen umzusetzen. In dieser Hinsicht sind Änderungen in Bezug auf die Regierungsformen der Beitrittsländer notwendig – sowohl in den Institutionen als auch in den Entscheidungsprozessen. In einem solch entscheidenden Moment müssen die Gewerkschaften als Teil der aktiven Zivilgesellschaft die Menschen mobilisieren und nationale Maßnahmen und Proteste mit der Forderung nach einer angemessenen Umsetzung radikaler Reformen einleiten und sicherstellen, dass die Stimmen der erwerbstätigen Menschen bei der Schaffung eines auch tatsächlich transformativen EU-Beitrittsprozesses weiter im Mittelpunkt stehen.

  3. Die Gewerkschaften aus den Beitrittsländern müssen konkrete Schritte in drei zentrale Richtungen unternehmen:

    - Verbesserung der Qualität der Arbeitsplätze,

    - Erhöhung der Chancen für junge Menschen, einen guten Arbeitsplatz zu bekommen,

    - Gewährleistung, dass nationale Arbeitskräfte über die erforderlichen Kompetenzen verfügen, um den Bedarf des Arbeitsmarktes zu erfüllen. 

  4. Die Arbeitnehmerorganisationen in den Beitrittsländern müssen ihre Verbindung zur Basis wiederherstellen und bessere Synergien aufbauen, um das bürgerschaftliche Engagement zu erhöhen.  Zusätzlich verlangen neue Trends in der Arbeitswelt einen robusteren Ansatz für das Management von Arbeitskräften und für Verhandlungen. Aufgrund dieser neuen Realität am Arbeitsplatz geht es beim sozialen Dialog und bei den Tarifverhandlungen nicht nur darum, eine faire Bezahlung sicherzustellen, sondern auch darum, eine nachhaltige Zukunft für die Arbeitnehmer:innen zu schaffen. In dieser Hinsicht erwarten die Gewerkschaften aus den Beitrittsländern von zukünftigen EZA-Schulungen, dass sie bewährte Methoden und passende Hilfsmittel thematisieren, mit denen sie ihre Kompetenz steigern können, sich an Tarifverhandlungen zu beteiligen und ihre Sichtbarkeit in der Gesellschaft zu erhöhen.

  5. Die Fähigkeit der Gewerkschaften aus den Beitrittsländern, junge Menschen für eine Mitgliedschaft und eine aktive Beteiligung zu gewinnen, ist noch sehr ausbaufähig.  Das muss sich ändern, da Gewerkschaften nur dann wachsen können, wenn sie mit überzeugenden Angeboten und in einer Sprache an junge Menschen herantreten, die bei diesen Arbeitnehmer:innen auch ankommen. Aus diesem Grund fordern die Gewerkschaften aus den Beitrittsländern konkrete Unterstützung beim Erwerb von Wissen, Motivation und Taktiken, wie sie junge Menschen für ihre Organisationen gewinnen können.