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Förderung von Qualität und Innovation bei der Vergabe öffentlicher Aufträge: soziale Aspekte und Tarifverhandlungen

Vom 8. bis 10. August 2024 fand in Vilnius/Litauen ein dreitägiges internationales Seminar zum Thema „Förderung von Qualität und Innovationen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge: soziale Aspekte und Tarifverhandlungen“ statt, das von der litauischen Gewerkschaft Solidarumas zusammen mit dem Europäischen Zentrum für Arbeitnehmerfragen (EZA) organisiert und von der Europäischen Union finanziert wurde. Die 53 Vertreter:innen von Arbeitnehmerorganisationen aus Litauen, Lettland, Polen, Montenegro und Deutschland wurden von Kristina Krupavičienė, Vorsitzende der litauischen Gewerkschaft Solidarumas, und von Jovita Pretzsch, stellvertretende Vorsitzende von Solidarumas sowie Mitglied des EZA-Verwaltungsrates, begrüßt. 

Das einleitende Thema des Seminars über Modelle des Wohlfahrtsstaates wurde von Prof. Dr. Daiva Skučienė, Leiterin der Abteilung für Sozialpolitik am Institut für Soziologie und Sozialarbeit der Universität Vilnius, vorgestellt. In ihrem Vortrag zählte sie die gängigsten Definitionen eines Wohlfahrtsstaates auf. Sie stellte die vier am häufigsten identifizierten Systeme eines Wohlfahrtsstaates vor, nämlich das konservativ-korporative, das sozialdemokratische, das mediterrane und das angelsächsische System. Sie sprach über die Art und Weise, wie diese Modelle in unterschiedlichen politischen Systemen funktionieren, sowie über die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in den postkommunistischen Ländern Osteuropas. Im Falle des osteuropäischen/postkommunistischen Systems des Wohlfahrtsstaates hatten neoliberale Ideen einen großen Einfluss auf die politischen Eliten, die glaubten, dass die kommunistische Vergangenheit die Vorstellungen von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit in Verruf gebracht hatte.

Die nachfolgende Referentin, Anna Lupi von der Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU der Europäischen Kommission, stellte den allgemeinen Rechtsrahmen für die Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge in der EU vor. Sie erläuterte, wie sich dies in nationalen Vorschriften niederschlägt, und stellte die Leitprinzipien für die Vergabe öffentlicher Aufträge vor. Die Hebel für die Auftragsvergabe sind nach Ansicht der Referentin ein fairer Wettbewerb, bessere Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz und eine sozial verantwortliche Auftragsvergabe, die dazu beiträgt, die Kluft zwischen den verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft zu überbrücken.

Der Vortrag von Tea Jarc, Bundessekretärin des EGB, gab einen Überblick über die unterschiedlichen Methoden in den einzelnen Ländern und die Schwächen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Sie vermittelte die Botschaft, dass die Richtlinie über die Vergabe öffentlicher Aufträge überprüft, ihre Auswirkungen auf die Unternehmen bewertet und durch Tarifverträge die besten Arbeitsbedingungen gewährleistet werden müssen.

Der nächste Referent des Seminars, Kęstutis Kazulis von der Dienststelle für die Vergabe öffentlicher Aufträge, stellte die Bemühungen des Staates zur Überprüfung der bestehenden Verfahren im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge vor. Er wies darauf hin, dass im Jahr 2022 der Status eines Sozialunternehmens nicht mehr existiert. Infolgedessen wird versucht, soziale Belange in die Vergabe öffentlicher Aufträge einzubringen, so dass sich wahrscheinlich bald ein neues Modell herausbilden wird.

Im Anschluss an die oben genannten Vorträge fand eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Sind sozial verantwortliche Einkäufe für Arbeitgeber:innen attraktiv?“ statt. Die Diskussion konzentrierte sich auf folgende Fragen: Inwieweit ist die Vergabe öffentlicher Aufträge mit der sozialen Verantwortung vereinbar und kann ein sozial verantwortliches Unternehmen auf einem nicht regulierten Markt überhaupt konkurrieren und öffentliche Aufträge erhalten? Wie könnte und sollte der soziale Dialog durch die Vergabe öffentlicher Aufträge gefördert werden?  Es wurde die Erarbeitung eines Standardvertrages für die Auftragsvergabe, eines Kriterienkataloges sowie eines Qualifikationskataloges vorgeschlagen, damit die öffentlichen Auftraggeber keine speziellen Kriterien für Verwandte entwickeln können und so Vetternwirtschaft verhindert werden kann. Die Kriterien sollten gut durchdacht, genehmigt und in der EU zwischen den Vergabebehörden und den Auftraggebern diskutiert werden.

Eine weitere Sitzung des Seminars war der sozial verantwortlichen Auftragsvergabe und den Vorteilen dieser Auftragsvergabe für die Arbeitnehmer:innen gewidmet. In Litauen wurden Leitlinien für eine sozial verantwortliche Vergabe von öffentlichen Aufträgen erarbeitet. Die sozial verantwortliche Auftragsvergabe (SVB – Socially Responsible Procurement) zielt darauf ab, die Auswirkungen der eingekauften Waren, Dienstleistungen und Arbeiten auf die Gesellschaft zu berücksichtigen und zur Lösung sozialer Probleme beizutragen. Ein Beitrag zu sozialen Fragen kann durch die Festlegung verschiedener sozialer Kriterien bei der Auftragsvergabe geleistet werden, z. B. durch die Aufforderung an die Zulieferer:innen, Menschen mit Behinderungen, Personen, die ein Kind mit Behinderung unter 18 Jahren aufziehen, Personen, die Familienangehörige betreuen oder mit pflegebedürftigen Familienmitgliedern zusammenleben, Personen über 55 Jahre usw. zu beschäftigen. Die Zulieferer:innen können auch aufgefordert werden, Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf anzubieten, wie z. B. flexible Arbeitszeiten, Telearbeit, die Möglichkeit, ein Kind mit an den Arbeitsplatz zu bringen oder ein Ausgleich für die Kinderbetreuung usw. Es wurde festgestellt, dass die Gewerkschaften aktiver mit den Dienststellen für die Vergabe öffentlicher Aufträge zusammenarbeiten sollten, um die Leitlinien für eine sozial verantwortliche Vergabe von öffentlichen Aufträgen zu verbessern und zu ergänzen, um Kriterien für den sozialen Dialog und Tarifverträge aufzunehmen.

Die Sitzung konzentrierte sich auf die Kosten, die einem Unternehmen mit einem Tarifvertrag entstehen, d. h. mehr Verpflichtungen gegenüber den Arbeitnehmer:innen, im Vergleich zu einem Unternehmen mit weniger Verpflichtungen gegenüber den Arbeitnehmer:innen und ohne Tarifverträge. Unternehmen mit niedrigeren Sozialkosten erhalten bei Ausschreibungen aufgrund des Kriteriums des niedrigsten Preises eher den Zuschlag.

In einem Rundtischgespräch wurde die Frage des Sozialdumpings, des Einflusses des niedrigsten Preises in Litauen und der Missachtung der auf dem Markt geltenden Arbeits- und Sozialstandards erörtert. Der deutsche Vertreter teilte seine Erfahrungen und erklärte, dass Deutschland bereits über mögliche Wege zur Bekämpfung der Niedriglöhne spreche. Die Bedeutung eines Tarifvertrages darf dabei nicht unterschätzt werden. In der berühmten Tesla-Autofabrik zum Beispiel gibt es keinen Tarifvertrag, was nicht richtig ist. Junge Menschen glauben, dass sie für sich selbst einstehen können, aber dem ist leider nicht so. Unter den gegebenen Umständen ist der Beitritt zu einer Gewerkschaft das einzig Richtige.

Regina Jarošienė, Vorsitzende der Gewerkschaft für Arbeitnehmer:innen in medizinischen Einrichtungen Solidarumas, und Lina Urbonovičienė, Vorsitzende der Gewerkschaft für Veterinärmediziner:innen, sprachen über Tarifverhandlungen aus der Sicht der Arbeitnehmer:innen und ihre praktischen Erfahrungen im Arbeitsalltag. Das Bewusstsein für die Bedeutung der Vergabe öffentlicher Aufträge muss bei den Gewerkschaftsmitgliedern gefördert werden. Regina Jarošienė berichtete über die Erfahrungen der Gewerkschaft für Arbeitnehmer:innen in medizinischen Einrichtungen Solidarumas. Vor einigen Jahren war diese Gewerkschaft noch als Beobachterin bei den Tarifverhandlungen dabei, jetzt ist sie eine der führenden Verhandlungsparteien.

Das Seminar kam zu dem Schluss, dass die Gewerkschaften an den Prozessen im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge beteiligt werden müssen und dass die Auftragsvergabe eine Möglichkeit darstellt, viele der sozialen Probleme in der Arbeitswelt anzugehen, durch die menschenwürdige Arbeits- und Sozialstandards aufrechterhalten werden können. Es ist daher notwendig, den bestehenden Rechtsrahmen zu nutzen. In Artikel 9 der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union, „Vergabe öffentlicher Aufträge“, ist vorgesehen, dass „...die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass die Wirtschaftsteilnehmer:innen bei der Ausführung von öffentlichen Aufträgen oder Konzessionsverträgen die in den Tarifverträgen für die betreffende Branche und das betreffende geografische Gebiet festgelegten Löhne sowie den gegebenenfalls festgesetzten Mindestlohn einhalten“.

Es ist wichtig, mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund zusammenzuarbeiten, um an der öffentlichen Konsultation zur Aktualisierung der EU-Richtlinie über die Vergabe öffentlicher Aufträge von 2014 teilzunehmen und die Kriterien zu überprüfen. Darüber hinaus sollten die sozialen Kriterien eher verbindlich als präskriptiv sein. Arbeitgeber:innen, die die Rechte der Arbeitnehmer:innen verletzen, sollten sich nicht an der Vergabe öffentlicher Aufträge beteiligen dürfen, geschweige denn den Zuschlag erhalten.

Es wurde festgestellt, dass die sozial verantwortliche Vergabe öffentlicher Aufträge eine Angelegenheit der politischen Entscheidungsträger:innen ist und dass die soziale Auftragsvergabe daher zu einem strategischen Ziel des Staates werden sollte, dass aber derzeit das Preiskriterium immer noch das vorherrschende Kriterium ist und 80 % aller öffentlichen Aufträge ausmacht. Aber auch dem Klimawandel und der umweltorientierten Vergabe öffentlicher Aufträge sollte Aufmerksamkeit gewidmet werden.