Auf dem heutigen Arbeitsmarkt scheint eine Vermeidung von Druck am Arbeitsplatz fast unmöglich. Das aktuelle Arbeitsumfeld verlangt seinen Arbeitnehmer:innen viel ab. Aber was genau ist mit Druck am Arbeitsplatz eigentlich gemeint?
Mehr als 60 Gewerkschaftsführer:innen und Expert:innen aus der EU und anderen Ländern kamen zu einem zweitägigen Seminar mit dem Titel „Druck bei der Arbeit. Wie kann man die ständigen und steigenden Anforderungen an die Arbeitnehmer:innen reduzieren?” zusammen. Das Seminar fand vom 8.-10. Oktober 2024 in Alcalá de Henares/Spanien statt. Alcalá de Henares ist der Geburtsort von Miguel de Cervantes, dem Autor des Werkes „Der sinnreiche Edelmann Don Quijote von der Mancha“. Auf seinem Pferd und in Begleitung seines Knappen Sancho Panza kämpfte Don Quixote gegen jegliche Arten von Ungerechtigkeit. Und genau das versuchen wir als Gewerkschaften auch. Die Initiative wurde von WOW-Europe in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum für Arbeitnehmerfragen (EZA) organisiert und von der Europäischen Union finanziert.
Barbara Artenjak, Mental Health & Body Trainerin sowie Betriebsrätin beim Österreichischen Automobil-, Motorrad- und Touring Club (ÖAMTC), erläuterte sehr ausführlich, was der ÖAMTC unternimmt, um seine sogenannten „Gelben Engel“ zu entlasten. Mit diesem Begriff sind die Personen gemeint, die Menschen helfen, wenn sie Probleme mit ihrem Auto haben. Sie sind in gelben Autos unterwegs. Die vielen Krankentage in Österreich kosten die Gesellschaft und die Unternehmen viel Geld. Um dem entgegenzuwirken, bietet der ÖAMTC Entlastungsstrategien an, wie z. B. Fitness- und Sportprogramme, Kinderbetreuung, Programme zur mentalen Gesundheit, Gesundheitsfürsorge und -angebote sowie flexible Arbeitszeitmodelle. Die Idee dahinter ist, dass man Raum für Kreativität und Innovationen schafft, wenn man den Druck reduziert.
Aus einer komplett anderen Perspektive schaute Patricia Nieto Rojas, Dozentin für Arbeitsrecht und soziale Sicherheit an der Nationalen Universität für Fernunterricht – UNED (Spanien), auf die Folgen der Gleichstellung der Geschlechter im EU-Rahmen. Ungleichheit zwischen den Geschlechtern trägt maßgeblich zu Druck am Arbeitsplatz bei. Von Frauen wird immer noch erwartet, dass sie zu Hause alles im Griff haben, während sie gleichzeitig Karriere machen sollen. Diese Erwartungshaltung führt zu vielen stressbedingten Problemen. Die Gleichstellung zwischen Frauen und Männern muss in allen Bereichen gewährleistet werden, darunter auch in den Bereichen Beschäftigung, Arbeit und Bezahlung. Leider gibt es immer noch Geschlechterdiskriminierung. Durch die Förderung positiver Maßnahmen sollen Frauen gerechtere Chancen erhalten, bestimmte Positionen zu erreichen. Diese Chancen sollten jedoch immer auch auf der jeweiligen beruflichen Qualifikation beruhen.
Druck am Arbeitsplatz führt zu Leistungsabfall und Burn-out. Er führt jedoch auch zu Ängsten, berichtete Brian Dijkema, Präsident des CARDUS Think Tank (Kanada). „Das klinische Verständnis von Angst bezieht sich auf anhaltende und übermäßige Sorgen (Befürchtungen) in der Erwartung eines künftigen Problems“, fügte Brian Dijkema hinzu. Diese Angst kann sich körperlich, im Verhalten und geistig äußern. Aktuell gelten Ängste sowohl in den USA als auch in Kanada als das am häufigsten auftretende Problem. Die Hauptgründe für diese Ängste sind Unsicherheit im Hinblick auf die Welt als Ganzes, ein fehlendes Gemeinschaftsgefühl innerhalb der Gesellschaft und fehlende Handlungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz. „Beim Arbeiten geht es um Sinnhaftigkeit, um die eigene Identität. Man möchte nach getaner Arbeit nach Hause gehen und das Gefühl haben, dass das eigene Leben einen Sinn hat und dass man selbst etwas Positives in der Welt beiträgt. Wir müssen dem Trend in unserem modernen Wirtschaftssystem widerstehen, unsere Mitglieder zu entmenschlichen“, beendete Brijan Dijkema seinen Vortrag.
Pablo González Rico, Professor (PhD) für Betriebswirtschaftslehre und Co-Direktor des Masterstudiengangs für Personalmanagement und Organisationsentwicklung an der CEU San Pablo University (Spanien), bestätigte: „Arbeitsbedingter Stress bedeutet heutzutage die größte psychosoziale Belastung. Dies wirkt sich auch auf das Maß an emotionaler Erschöpfung aus, führt zu Anonymisierung/Zynismus und beeinträchtigt die berufliche Leistungsfähigkeit.“ Die Art und Weise, wie wir mit Stress und Burn-out umgehen, unterscheidet sich stark von der Vorgehensweise von vor 30 Jahren. Wie ein Mensch mit unterschiedlichen Stressleveln umgeht, hängt von den persönlichen Eigenschaften und der Art seiner Tätigkeit ab. Deshalb sollte man jeden Menschen einzeln betrachten. Es reicht nicht aus, ein Unternehmen als Ganzes oder auch eine Abteilung als Ganze zu betrachten, da die Menschen alle unterschiedlich sind und unterschiedliche Aufgaben haben.
Dies zeigt, wie wichtig die Unternehmensführung ist. „Die Unternehmensführung ist ein wichtiger Faktor, der zu internem Druck am Arbeitsplatz beiträgt. Eine gute Unternehmensführung kann Grenzen setzen und Druck am Arbeitsplatz in einem gewissen Umfang einschränken”, so Kevin Kohut, Direktor von CLAC für die Provinz British Columbia, und Isobel Farrell, Direktorin von CLAC für die Provinz Ontario, beide von CLAC Kanada. Das bedeutet natürlich nicht, dass nie Situationen entstehen können, in denen es zu Druck am Arbeitsplatz kommt, diese Situationen sollten jedoch abgefedert werden. Eine schlechte Unternehmensführung wiederum wird das Klima am Arbeitsplatz sicherlich verschlechtern. Denn sie wird so nicht zu Sicherheit und einem Gefühl der Zugehörigkeit beitragen. Dies führt in der Folge zu verschiedenen Arten von Druck und Stress.
„Stress am Arbeitsplatz als Herausforderung für den Arbeitsmarkt“, begann Irina Semjonova, Beraterin der Vereinigten Polizeigewerkschaft in Lettland, ihren Vortrag. Stress hat so viele Ursachen. Die wesentliche Zutat für alle Arten von Stress ist das Überschreiten von Grenzen und Beschränkungen, was zu einem Kontrollmangel führt. Stress setzt dann ein, wenn man überfordert ist. Wie sich dieser Stress schließlich äußert, ist bei jeder und jedem unterschiedlich. Der gemeinsame Nenner sind jedoch Versäumnisse und Kosten. Sowohl Regierungen als auch Unternehmen befassen sich zunehmend mit den tief liegenden Ursachen, da sie sehen, dass Stress gewaltige Folgen hat. Führungskräfte werden entsprechend geschult, Programme erstellt, das Arbeitsumfeld angepasst usw. – und dass alles, damit niemand das Unternehmen verlässt.
„Druck am Arbeitsplatz entsteht aber nicht allein durch die Arbeitsbelastung“, gibt Carlijn Brouwer, Beraterin für gesundes Leben und Arbeiten bei der niederländischen Organisation für angewandte naturwissenschaftliche Forschung TNO, zu bedenken. „Persönliche Faktoren, wie ein Mangel an Kompetenzen oder Fähigkeiten, gehören zu den individuellen Faktoren, die sich auswirken. Genauso wie das Fehlen von Puffern (soziale Unterstützung von unterschiedlichen Seiten).“ Es stimmt natürlich, dass die Art und Weise, wie die Arbeit organisiert ist, Auswirkungen auf die Gefühle und die Stellung der Arbeitnehmer:innen hat. Es spielen jedoch noch weitere Faktoren eine Rolle. „Unternehmen sollten sich dies bewusst machen und Maßnahmen zum Eingreifen bei einzelnen Arbeitnehmer:innen, Teams, der Unternehmensführung und dem Unternehmen als Ganzes erarbeiten. Durch dieses Eingreifen werden alle Engpässe ersichtlich und es können Maßnahmen folgen“, so Carlijn Brouwer abschließend.
Das Seminar schloss mit einer internationalen Debatte am runden Tisch. Teilnehmer:innen der Diskussionsrunde aus Deutschland, Nordmazedonien, Argentinien und den Philippinen sprachen dabei über die Probleme und Lösungen in ihren jeweiligen Ländern.
Die Tage in Alcalá de Henares haben gezeigt, dass bereits viel getan wird, um Stress einzugrenzen. Und zwar weil er sowohl schlecht für die Menschen als auch schlecht für die Finanzen ist. Es gibt allerdings noch viel zu tun. Nicht jedes Unternehmen und nicht jede Organisation befinden sich in der Lage, alle Probleme sofort angehen zu können, aber die Erkenntnis ist bereits ein sehr guter erster Schritt dahin. Denn die neue Generation verlangt andere Dinge. Außerdem können wir nicht so weitermachen wie bisher.