Bei der internationalen Tagung der Plattform IPEO, organisiert vom AFB - Arbeiter, Freizeit- und Bildungsverein in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum für Arbeitnehmerfragen – EZA und finanziert durch die Europäische Union befassten sich um die 55 Teilnehmer:innen aus Südtirol/Italien, Deutschland, Österreich, Litauen und Serbien unter dem Titel „Diskriminierung und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“. Die Tagung fand in der Cusanus Akademie in Brixen/Italien am 5. und 6. September 2024 statt.
Trotz des deutlichen Ausbaus des gesetzlichen Schutzes gegen Diskriminierungen und Gewalt am Arbeitsplatz sind die Mitarbeiter:innen in den Betrieben, wie internationale Studien belegen, häufig mit abfälligen Kommentaren, verbalen Belästigungen, sexualisierten Übergriffen und Mobbing konfrontiert. Laut einer telefonischen Befragung (EWCTS 2021) haben europaweit ca. 10% der Beschäftigten im Jahr vor der Erhebung eine Diskriminierung am Arbeitsplatz erfahren, 9,6% waren Opfer einer verbalen Beleidigung oder Drohung, 6% fühlten sich gemobbt und 2% waren Zielscheibe sexualisierter Belästigungen. Opfer sind vor allem Frauen, junge Menschen in Ausbildung und prekär Beschäftigte. Expertinnen aus der Wissenschaft, den Gewerkschaften und von öffentlichen und privaten Anlaufstellen befassten sich auf der vom AFB zusammen mit der IPEO organisierten internationalen Tagung in Brixen mit den Gründen für die Diskrepanz zwischen formalen Schutzstandards und Arbeitsalltag. Sie forderten mehr gesellschaftliches Engagement bei der Bekämpfung diskriminierenden Verhaltens, wobei folgende Anforderungen im Vordergrund stehen: In erster Linie liegt es an den Unternehmen dafür zu sorgen, dass im Betrieb eine Kultur des Respekts, der Chancengleichheit und der Kooperation verankert und gelebt wird. Die Mitarbeiter:innen müssen bereits ab dem Zeitpunkt der Einstellung über entsprechende Richtlinien des Unternehmens und diesbezügliche Ansprechpartner:innen in Kenntnis gesetzt werden. Es sind Sensibilisierungsinitiativen durchzuführen, damit die Mitarbeiter:innen die zahlreichen Formen ungebührlichen Verhaltens besser einschätzen können und sich klar darüber werden, wo die Grenze zwischen Spaß und Belästigung und zwischen Arbeitsbesprechungen und Mobbing verläuft. Geringschätziges und rüpelhaftes Verhalten sind auf betrieblicher Ebene zu sanktionieren. Strafrechtlich erhebliches Fehlverhalten ist anzuzeigen und zu ahnden. Die inzwischen eingeführten Hilfestellungen für Opfer von Diskriminierungen und Übergriffen sind angesichts der steigenden Gewaltbereitschaft auszubauen und bedarfsgerecht zu finanzieren. Korrekter und wertschätzender Umgang sollten gesellschaftlich als Leitbild propagiert werden, um der Verrohung der Umgangsformen entgegenzutreten.
Wissenschaftliche Untersuchungen und die Erfahrungen aus der Beratung von Opfern von Übergriffen bestätigen: Gewalterfahrungen werfen die betroffenen Mitarbeiter:innen aus ihrer Bahn, erschüttern das Selbstvertrauen und die Arbeitsmotivation. Je nach Intensität und Dauer können sie auch ernsthafte psychische und physische Beeinträchtigungen auslösen. Gleichstellungsbeauftragte, Gewerkschafterinnen und Wissenschaftlerinnen waren sich auf der Tagung einig in der Analyse, dass Gewalterfahrungen am Arbeitsplatz Ausdruck von Machtasymmetrien, tief verwurzelten Geschlechterstereotypen und Vorurteilen sind. Über die Beeinträchtigung der individuellen Würde der Mitarbeiter:innen hinaus stellen Diskriminierungen in den sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz erhebliche Belastungsfaktoren für die Produktivität und das Arbeitsklima dar. Zahlreiche Unternehmen haben dies erkannt und, vor allem in größeren Betrieben, Chancengleichheit und respektvollen Umgang als unternehmerischen Leitgedanken in ihren Abläufen, Entscheidungsprozessen und Kommunikationsstrukturen verankert.
Die von Diskriminierungen Betroffenen und insbesondere Frauen weisen aufgrund unterschiedlicher Faktoren eine verminderte Wehrhaftigkeit im Umgang mit Diskriminierungen auf. Zunächst zeigt immer noch das längst obsolete gesellschaftliche Rollenbild Wirkung, wonach der Arbeitsmarkt eine Domäne der Männer als Ernährer ist und die Frauen bei Heim, Herd und Kindern ihre Bestimmung finden. Doch es gibt noch eine Reihe anderer Gründe, weshalb Frauen Diskriminierungen und Gewalterfahrungen nicht entschlossen genug begegnen und diese häufig gar nicht zur Sprache bringen. Ein gewichtiger Faktor ist die Angst davor, dass ihnen nicht geglaubt wird. Sie schwiegen lieber als in Kauf zu nehmen, dass letztendlich der Spieß umgedreht und ihnen selbst die Schuld für die Belästigungen in die Schuhe geschoben wird. Relevant ist, ob sie, auch aufgrund der familiären Verantwortung, auf die Arbeit und das Einkommen angewiesen sind und fürchten müssen, eventuell die Stelle zu verlieren, wenn sie den Fall betriebsintern zur Sprache bringen. Auch mögliche berufliche Nachteile in Bezug auf die Zuweisung der Arbeitsaufgaben, die Karriere und die soziale Position im Unternehmen können Betroffene davon abhalten, sich zur Wehr zu setzen. Wer in Ausbildung ist, befindet sich in einem Abhängigkeitsverhältnis mit einem entsprechenden Gefälle der Autorität und in der Kommunikation.
In kleinen Betrieben fehlen Ansprechpartner, an die sich Opfer vertrauensvoll wenden können. Viele Mitarbeiter:innen sind zu wenig über den gesetzlichen Schutz informiert und wissen nicht, dass es externe Anlaufstellen gibt, die eine professionelle Hilfestellung bieten, anonym oder in einem vertraulichen Gespräch. Vor allem prekär Beschäftigte und insbesondere solche mit Migrationshintergrund verfügen über wenig Instrumente, um sich gegen ungerechte und herabschätzende Behandlung im Arbeitsumfeld zur Wehr zu setzen, sei es, weil sie unter dem Druck hoher Arbeitsbelastung stehen, sei es, weil sie ein geringeres sprachliches Artikulationsvermögen aufweisen und die Rechtslage nicht kennen. Bei Frauen mit Migrationshintergrund spielt auch eine Rolle, ob sie einem Kulturkreis mit geringer Eigenständigkeit der Frauen angehören.
In den einzelnen EU-Ländern gibt es zahlreiche Handhaben gegen die Diskriminierung am Arbeitsplatz. Ein Meilenstein hierfür ist die vom Europarat 2011 unterzeichnete sog. Istanbul-Konvention, da diese „Gewalt und Belästigungen“ im Arbeitsumfeld klar definiert hat. Es handelt sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der die Staaten dazu verpflichtet, Vorbeugungs- und Schutzmaßnahmen umzusetzen, wirksame Verfahren für die Ahnung von Fehlverhalten und die Schadenersatzleistung vorzusehen, Hilfestellungen für die Opfer - auch unter Einbeziehung nicht staatlicher Organisationen - bereitzustellen und Informations- und Sensibilisierungsinitiativen zu verwirklichen. Mit großen Verzögerungen haben die EU-Länder dieses Abkommen unterzeichnet und in der Folge eigene Gesetze erlassen, die den Schutz gegen Gewalt generell und auch gegen Gewalt am Arbeitsplatz verbessert haben. 2021 ist mit der ILO-Konvention ein internationales Abkommen zur Bekämpfung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt in Kraft getreten.
Von den Sozialpartnern ist bereits 2007 eine Europäische Rahmenvereinbarung mit Handlungsempfehlungen zur Vorbeugung und Bekämpfung von Belästigungen und Gewalt am Arbeitsplatz unterzeichnet worden. Sie unterstrich die Verantwortung der Arbeitgeber für entsprechende betriebliche Strategien und bekräftigte die Absicht, umfassende Maßnahmen zur Sensibilisierung und Schulung, zur Meldung und Anzeige entsprechender Zwischenfälle sowie zum Opferschutz in die Wege zu leiten. In den einzelnen Ländern sind in Anlehnung an die Istanbul-Konvention Schutzbestimmungen in die Tarifverträge eingebaut worden. Abkommen der Sozialpartner sowohl auf gesamtstaatlicher wie auf lokaler Ebene fördern über den gesetzlichen Schutz hinaus die Informations- und die Bildungstätigkeit zum Thema Diskriminierung am Arbeitsplatz. Dies vorausgeschickt, sollte die Initiativkraft der Gewerkschaften in Gleichstellungsfragen gestärkt werden, damit die Grundsätze zum Schutz der Mitarbeiter:innen vor Diskriminierungen in konkrete Maßnahmen umgemünzt werden. Was die Information und die Bildungstätigkeit betrifft, ist Chancengleichheit ein kongeniales Arbeitsfeld für die Gewerkschaften und Sozialverbände, nicht zuletzt dank der in Sozialpartnerabkommen auf lokaler Ebene vorgenommenen Weichenstellungen und der Möglichkeit einer gemeinsamen Finanzierung.