Vom 14.-15. Januar 2025 fand in Warschau/Polen sowie online ein Seminar mit dem Titel „Die Wirksamkeit des sozialen Dialogs bei der Umsetzung der Mindestlohnrichtlinie – Erfolg oder Enttäuschung?“ statt. Die Sitzung wurde von KK NSZZ „Solidarność“ (Komisja Krajowa NSZZ „Solidarność“) in Zusammenarbeit mit dem EZA organisiert und von der Europäischen Union finanziert.
Am Seminar nahmen 43 Vertreter:innen von Arbeitnehmerorganisationen aus Polen, den Niederlanden, Bulgarien, der Slowakei, Österreich, der Tschechischen Republik, Litauen und Frankreich teil. Die Arbeitssprachen waren Englisch, Französisch, Deutsch und Polnisch.
Das Ziel des Seminars bestand darin, die Situation in den einzelnen Ländern aufzuzeigen, über den Stand der Umsetzung der Richtlinie 2022/2041 des Europäischen Parlamentes und des Europäischen Rates vom 19. Oktober 2022 über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union zu sprechen und Erfahrungen darüber auszutauschen.
Die Sitzung wurde von Elżbieta Wielg (NSZZ „Solidarność“) eröffnet, die die Teilnehmer:innen begrüßte und die zweitägige Tagesordnung der Sitzung vorstellte. Anschließend übergab sie das Wort an Jerzy Jaworski, stellvertretender Vorsitzender der nationalen Kommission von NSZZ „Solidarność“, und Dariusz Paczuski, Vorsitzender der Region Masowien bei NSZZ „Solidarność“, die die Teilnehmer:innen begrüßten und die Situation in der Region Masowien, in der sie 43.000 Gewerkschaftsmitglieder haben, beschrieben.
Der erste Vortrag zum Thema „Umsetzung der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU“ aus der Sicht der Europäischen Kommission wurde von Jose Antonio Garrido Otaola, einem Vertreter der Europäischen Kommission, gehalten. Er sprach über den historischen Hintergrund der Entstehung der Mindestlohnrichtlinie sowie über die rechtliche Situation in Bezug auf den Mindestlohn in einigen Ländern der Europäischen Union. Außerdem betonte er, dass man auf die Entscheidung des Gerichtshofes warten muss, der nicht immer den Schlussanträgen des Generalanwaltes folgt, da die Richtlinie von Dänemark vor dem Europäischen Gerichtshof angefochten worden war und der Generalanwalt seine Schlussanträge für den 14. Januar 2025 angekündigt hatte. Maxime Cerutti, Leiter der Abteilung für soziale Angelegenheiten bei BusinessEurope, hob hervor, dass die Stimme der Mitgliedstaaten dahingehend gehört werden sollte, wie sie die Richtlinie umsetzen wollen, und dass jedes Land einzeln angesprochen werden sollte. Torsten Müller, Wissenschaftler und Vertreter des Europäischen Gewerkschaftsinstituts, erinnerte daran, dass die Europäische Kommission in Krisenzeiten einen anderen Ansatz bei Tarifverträgen verfolgte – sie versuchte, sie auszulöschen. Aktuell gelten Tarifverhandlungen nicht als Problem, sondern als Mittel zur Lösung eines Problems in der Wirtschaft. Er wies auch darauf hin, dass die Position der Gewerkschaften in Verhandlungen schwächer wird.
Im Anschluss wurde eine eingehende Analyse der Umsetzung der Mindestlohnrichtlinie anhand von Beispielen aus 5 Ländern vorgestellt. Joseph Thouvenel, von der französischen Vereinigung christlicher Arbeitnehmer:innen (CFTC) und Vize-Präsident des EZA, sprach über die Situation in Frankreich, wo 96 % der Arbeitnehmer:innen durch Tarifverträge abgedeckt sind. Lucie Studnicna, Sekretärin für auswärtige Zusammenarbeit beim tschechisch-mährischen Gewerkschaftsbund (CMKOS), stellte den Stand der Umsetzung der Richtlinie in der Tschechischen Republik vor, wo leider die Regierung selbst unter dem Druck aus Wirtschaftskreisen und ohne Gespräche mit den Sozialpartnern den Mindestlohn festlegt. Die Situation eines weiteren Landes wurde von Velichka Mikova, nationale Sekretärin beim Bund unabhängiger Gewerkschaften (CITUB), aus Bulgarien vorgestellt. In Bulgarien gibt es keine Tarifverträge auf nationaler Ebene; Tarifverhandlungen werden auf sektoraler Ebene innerhalb der jeweiligen Branchen und auf Unternehmensebene geführt. Im Jahr 2025 gibt es 10 sektorale und branchenspezifische Tarifverträge. Elmar Smid, Berater für Europapolitik vom Verband der niederländischen Gewerkschaften (FNV), sprach über die Situation in den Niederlanden, wo die Gespräche mit den Sozialpartnern über den nationalen Aktionsplan gerade erst begonnen haben und es daher noch keine konkreten Vorschläge gibt. Es ist zudem geplant, ein Verfahren einzuführen, falls die Notwendigkeit zur Erstellung zukünftiger Aktionspläne für die Umsetzung von Richtlinien entsteht. Viktoras Laskovas vom litauischen Gewerkschaftsbund (LDF) stellte den Grad der Abdeckung litauischer Arbeitnehmer:innen durch Tarifverträge vor, der mit 22 % noch immer einer der niedrigsten in der EU ist. Als letzter Referent erläuterte Andrzej Kuchta, Vorsitzender von NSZZ „Solidarność“ in PZL Świdnik und Mitglied des Rates für den sozialen Dialog, das Verfahren zur Festsetzung des Mindestlohns in Polen und vertrat die Ansicht, dass die Umsetzung der Richtlinie eine Reihe positiver Ergebnisse mit sich bringen sollte, die die Beschäftigungsstandards erheblich verbessern werden, wie z. B. verbesserte Arbeitsbedingungen, Verringerung der Einkommensunterschiede und Wiederbelebung von Tarifverhandlungen.
Anschließend fanden zwei Debatten statt. Das Ziel der ersten Debatte bestand darin, die angenommenen und vorgeschlagenen Aktionspläne zur Unterstützung von Tarifverträgen auszuwerten. Während dieser Debatte sprachen die folgenden Personen: Sławomir Adamczyk, Leiter des Büros für Industrie und Konsultation von NSZZ „Solidarność“, Paweł Śmigielski, Direktor der Abteilung für Recht und Intervention, OPZZ, Elmar Smid, FNV, Szymon Witkowski, Leitender politischer Entscheider, Vertreter des Rates für den sozialen Dialog, Vertreter der Arbeitgeber:innen sowie Viktoras Laskovas, litauischer Gewerkschaftsbund. Während der Debatte kamen Stimmen auf, dass das vorgeschlagene Gesetz nicht zu einer 80 %igen Abdeckung durch Tarifverträge führen würde. Unternehmer:innen ist nicht daran gelegen, Tarifverträge zu verhandeln und abzuschließen, sie sehen darin keine Vorteile für sich selbst. Sie sehen stattdessen, dass dadurch immer mehr Verpflichtungen und Belastungen für sie entstehen.
In der zweiten Debatte lag der Schwerpunkt auf der Möglichkeit der tatsächlichen Entwicklung eines Tarifrechts und auf der Frage, welche Bedingungen dafür förderlich sein und welche ein Hindernis darstellen könnten. An der Debatte nahmen die folgenden Personen teil: Jacek Męcina, Konfederacja Lewiatan, Berater des Rates für Beziehungen zwischen den Sozialpartnern und für den sozialen Dialog, Andrzej Kuchta, NSZZ „Solidarność“, Jan Czarzasty, Warsaw School of Economics, Velichka Mikova, CITUB, Bulgarien. Während der Debatte wurde die Ansicht vertreten, dass der technologische Wandel aktuell eine Herausforderung darstellt und dass es daher notwendig ist, Raum zu schaffen, um Arbeitgeber:innen dazu zu ermutigen, Tarifverträge zu erarbeiten. Der größte Mehrwert der Einführung der Richtlinie wird in der Motivation und Mobilisierung der Arbeitgeber:innen zu Gesprächen liegen. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit der Verallgemeinerung von sektoralen Verträgen eine guter Weg wäre, um den empfohlenen Grad einer 80 %igen Abdeckung durch Tarifverträge zu erreichen.
Die geplante Erarbeitung von Empfehlungen nach den Debatten wurde aufgrund der Tatsache verworfen, dass die Richtlinie angefochten wurde. Alle waren sich einig, dass alles unternommen werden sollte, um diese Zeit zu nutzen und mögliche Lösungen bestmöglich zu erarbeiten. Es ist notwendig, sich auf den Prozess der Überwachung und Kontrolle der geltenden Tarifverträge vorzubereiten. Darüber hinaus ist es auch wichtig, das öffentliche Bewusstsein für die Vorteile von Tarifverträgen zu erhöhen.
Bartłomiej Mickiewicz, stellvertretender Vorsitzender des nationalen Komitees von NSZZ „Solidarność“, fasste abschließend die Situation zusammen, in der die für die Umsetzung der Richtlinie verantwortliche Regierung eigentlich mit den Sozialpartnern den Entwurf von Gesetzen und Gesetzesänderungen besprechen sollte, aber sie stattdessen nicht über Änderungsvorschläge am Gesetz informiert hat. Dies zeigt, wie es um den sozialen Dialog aktuell bestellt ist und wie das europäische Sozialmodell sowie die Konzepte von Gleichbehandlung und gleicher Bezahlung behandelt werden. Diese Vorgehensweise der Regierung bei einem so wichtigen Thema gibt Anlass zur Sorge. Die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne war und ist für NSZZ „Solidarność” sehr wichtig, da sie dafür viel Arbeit und Zeit investiert hat. Während des Seminars zeigten die Beispiele aus einigen Ländern, dass die Einführung der Richtlinie möglich ist und dass jede:r von ihr profitieren kann. Die Umsetzung der Richtlinie und die Erleichterung der Möglichkeit für Tarifverträge kann zu einer besseren Demokratie, zu einer höheren sozialen Beteiligung und zu einem besseren sozialen Dialog führen. Es besteht die Hoffnung, dass sich dies in der Zukunft ändern wird.