Auf seiner diesjährigen Brüssel-Konferenz legte das Europäische Zentrum für Arbeitnehmerfragen (EZA) den Fokus auf „Die Agenda für Wettbewerbsfähigkeit der EU: Was steht dabei für Arbeitnehmer:innen und die Gesellschaft auf dem Spiel?“. Die Veranstaltung fand am 18. Februar 2025 statt und brachte Gewerkschaftsmitglieder, Mitglieder von Arbeitnehmerorganisationen, Vertreter:innen von Nichtregierungsorganisationen, politische Entscheidungsträger:innen, Arbeitgeber:innen und Forscher:innen zusammen, um einen kritischen Blick auf die Agenda für Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Kommission und ihre umfassenderen sozialen Folgen zu werfen. Die Konferenz wurde von der Europäischen Union finanziert.
Eröffnungsbemerkungen und Hauptvortrag
Die Vize-Präsidentin der Europäischen Kommission Roxana Mînzatu hielt die Eröffnungsrede, in der sie die Strategien der Kommission zur Ausrichtung des Wirtschaftswachstums auf den sozialen Wohlstand erläuterte. „Es liegt in meiner Verantwortung sicherzustellen, dass unsere Strategie zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der EU nicht auf Kosten der Arbeitnehmer:innen erfolgt“, stellte sie klar. Sie gab auch einen Überblick über die anstehenden Initiativen der Kommission im Bereich der Sozialpolitik. Die Kommissarin erinnerte zudem an ihre Verpflichtung, den sozialen Dialog weiter zu stärken, und betonte ihre Bereitschaft, mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten.
In seinen einleitenden Worten betonte der Co-Präsident des EZA Piergiorgio Sciacqua die Grundwerte des EZA – das Gemeinwohl und die soziale Gerechtigkeit – als wesentliches Kriterium für die Bewertung der wettbewerbsorientierten EU-Initiativen. Angesichts des aktuellen internationalen Umfeldes drängte er die EU dazu, bei der Gestaltung einer Politik, die Wirtschaftswachstum und soziale Verantwortung in Einklang bringt, eine proaktive Rolle einzunehmen.
Professorin Simona Beretta von der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand hielt den Hauptvortrag, in dem sie die christliche Sichtweise auf die Wettbewerbsfähigkeit darlegte. Sie hob hervor, dass Wirtschaftswachstum der Würde des Menschen und dem Gemeinwohl dienen muss und kein Selbstzweck sein darf. „Auch wenn die Wettbewerbsfähigkeit häufig als Mittel zur Erreichung höherer Ziele dargestellt wird, muss die Vorstellung zurückgewiesen werden, dass Effizienz eine Voraussetzung für Gerechtigkeit ist“, so Beretta. Ethische Überlegungen dürfen nicht erst hinterher angestellt werden, fügte sie hinzu: „Es zählt, wie und warum wir uns dem Wettbewerb stellen.“
Podiumsdiskussionen
Auf der Konferenz gab es drei ausführliche Podiumsdiskussionen zu den größten Herausforderungen der Agenda für Wettbewerbsfähigkeit der EU:
1. Vereinfachung oder soziale Erosion? Aufschlüsselung der Kosten für den Bürokratieabbau
In dieser Podiumsdiskussion wurden die möglichen sozialen Kosten der Bemühungen der EU für regulatorische Vereinfachungen untersucht. Brigitte Pircher, außerordentliche Professorin an der Södertörn University, stellte die wichtigsten Ergebnisse aus ihrem Bericht „Bessere Rechtsetzung in der EU: Schaffung eines Spielfeldes für Unternehmen auf Kosten der Sozial- und Umweltpolitik“ vor. Maxime Cerutti, Direktor für soziale Angelegenheiten bei BusinessEurope, gewährte Einblicke aus der Wirtschaft, während Jan Pieter Daems vom niederländischen Nationalen Christlichen Gewerkschaftsbund (CNV) die Perspektive der Arbeitnehmer:innen hervorhob.
Jan Pieter Daems: „Gewerkschaften nehmen die Bedenken der Wirtschaft ernst, diese Bedenken wurden in den Diskussionen und bei der Verabschiedung der Gesetze, die sie nun ‚vereinfachen‘ wollen, aber bereits berücksichtigt. Wir brauchen nicht weniger, sondern bessere Vorschriften.“
Erkenntnisse
Vorschriften existieren hauptsächlich deshalb, um gesellschaftliche Bedürfnisse zu erfüllen. Sie können den Unternehmen zwar Verpflichtungen auferlegen, man riskiert aber, dass ihr grundlegender Zweck vergessen wird, wenn man sie nur als Belastung betrachtet.
Die Bedenken der Wirtschaft sind legitim und sollten angemessen berücksichtigt werden. Allerdings wurden diese Interessen – ebenso wie die Interessen der Gewerkschaften – bei der Ausarbeitung und Verabschiedung der betreffenden Gesetzgebung bereits berücksichtigt. Die Wiederaufnahme bereits vereinbarter Gesetze allein als Reaktion auf die Bedenken einer Seite schafft einen unerwünschten Präzedenzfall.
2. Gewaltiger Investitionsbedarf, starre Steuervorschriften: Die riskante Wette der EU auf privates Kapital
In dieser Podiumsdiskussion lag der Fokus auf der Abhängigkeit der EU von privatem Kapital zur Erfüllung des großen Investitionsbedarfs. Andrea Beltramello, Referatsleiter der Kapitalmarktunion bei der GD FISMA der Europäischen Kommission, und Thierry Philipponnat, Chefvolkswirt bei Finance Watch, sprachen über die Investitionslücke der EU und die Leitinitiative der Kommission, um diese Lücke zu schließen: die Vollendung der Kapitalmarktunion (CMU). Die Teilnehmer:innen der Podiumsdiskussion sprachen über den Unterschied zwischen der Nutzung von privaten gegenüber öffentlichen Geldern, um die sozialen und ökologischen Ziele erreichen zu können, über die Risiken im Zusammenhang mit einer EU-weiten Kapitalmarktunion, die Notwendigkeit einer besseren Koordinierung zwischen den EU-Mitgliedstaaten zur Vermeidung eines Wettlaufes um die niedrigste Besteuerung von Kapital sowie über alternative Ansätze zur Finanzierung öffentlicher Güter.
Thierry Philipponnat: „Privates Kapital wird niemals öffentliche Gelder ersetzen. Beides funktioniert nach einer völlig unterschiedlichen Logik: Während öffentliche Gelder den Stellen zugewiesen werden können, bei denen ein gesellschaftlicher Bedarf besteht, fließen private Gelder nur dorthin, wo ausreichende Gewinne erzielt werden können. Das ist weder gut noch schlecht – so funktioniert das einfach.“
Erkenntnisse
Privates Kapital ist zwar notwendig, reicht aber nicht aus, um die Investitionslücke der EU zu schließen. Es kann öffentliche Finanzmittel nicht ersetzen, da beide einer grundlegend unterschiedlichen Logik folgen: Öffentliche Gelder können für gesellschaftliche Ziele eingesetzt werden, während private Gelder dorthin fließen, wo Rentabilität erwartet wird.
Die Vorstellung, dass keine öffentlichen Gelder zur Verfügung stehen – weder auf nationaler noch auf EU-Ebene – ist eine politisch selbst auferlegte Einschränkung. Es gibt umsetzbare Alternativen, darunter eine Überarbeitung der Haushaltsvorschriften der EU, die Aufnahme gemeinsamer EU-Schulden oder der Einsatz von Instrumenten der Geldpolitik. Einige dieser Optionen werden angesichts der neu aufkommenden Priorität der EU bereits überdacht: die Sicherheit.
3. Stärkung der Arbeitnehmer:innen und Förderung von Innovationen: Kompetenzen in einem wettbewerbsfähigen Europa
Diese Podiumsdiskussion beschäftigte sich mit der wichtigen Rolle der Kompetenzentwicklung bei der Förderung sowohl der Wettbewerbsfähigkeit als auch der sozialen Inklusion. Zu den Referent:innen gehörten Irene Wintermayr, politische Referentin im IAO-Büro für die EU und die Benelux-Länder, und Sofie Mols, Direktorin für Innovationen und Internationalisierung an der Thomas More University of Applied Sciences in Antwerpen. In der Diskussion wurde die Bedeutung des lebenslangen Lernens und die Notwendigkeit für eine stärkere Abstimmung zwischen Bildung und Industrieanforderungen hervorgehoben, um die Kompetenzlücke in Europa schließen zu können.
Sofie Mols: „In dieser sich rasant verändernden Welt ist lebenslanges Lernen die Lösung für den Aufbau qualifizierter und resilienter Arbeitnehmer:innen.“
Erkenntnisse
Eine wirksame Lösung und Zukunftssicherheit erfordern lebenslanges Lernen.
Dafür sind umfassende und wirksame Richtlinien zu Kompetenzen notwendig. Regierungen und Sozialpartner müssen durch den sozialen Dialog ein geeignetes Maßnahmenprogramm erarbeiten.
Partnerschaft mit Allianzen der Initiative „Europäische Hochschulen“ (UAS), um:
die Bedürfnisse von KMU in den Bildungsbereich zu übertragen
Fachkräfte fortzubilden und umzuschulen
unternehmerisches Denken zu fördern
Forschung für eine bessere Bindung einzusetzen
unterschiedliche soziale Gruppen zu erreichen
die Ausbildung in den MINT-Bereichen mitzugestalten
die internationale Zusammenarbeit und den Wissenstransfer zu stärken
die Unterstützung für die Initiative „Europäische Hochschulen“ zu stärken und fortzusetzen.
Abschließende Einblicke
Dennis Radtke (Mitglied des Europäischen Parlaments, EVP-Fraktion) lieferte eine abschließende Betrachtung und kritisierte dabei das langsame Tempo der Entscheidungsfindung in der EU, beispielsweise im Bereich der staatlichen Unterstützung für angeschlagene Stahlunternehmen in Deutschland, während er gleichzeitig die Notwendigkeit des undogmatischen Bürokratieabbaus anerkannte. Er machte sich für eine soziale Marktwirtschaft anstelle von spaltenden politischen Initiativen stark, wie sie von Personen wie Elon Musk befürwortet werden.
EZA-Präsident Luc Van den Brande schloss die Konferenz, indem er die Verpflichtung des EZA bekräftigte, sicherzustellen, dass die Agenda für die Wettbewerbsfähigkeit der EU sozialer Gerechtigkeit, der Solidarität und dem Gemeinwohl dient und dabei die Grundsätze der Subsidiarität eingehalten werden. Er betonte auch die Bedeutung des sozialen Dialogs bei der Gestaltung der künftigen Politik.