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Rolle und Stellung der Bauarbeitergewerkschaft im EU-Beitrittsprozess

Am 7. und 8. November 2023 fand in Belgrad / Serbien ein Seminar zum Thema „Rolle und Stellung der Bauarbeitergewerkschaft im EU-Beitrittsprozess“ statt. Das Seminar wurde von der serbischen Gewerkschaft für Arbeitnehmer:innen in der Bau- und Baustoffindustrie in Zusammenarbeit mit ACV Bau – Industrie & Energie, Belgien, und dem EZA organisiert und von der Europäischen Union finanziert. Es wurde im Rahmen des EZA-Sonderprojekts für Arbeitnehmerorganisationen im Westbalkan veranstaltet. 

Das Seminar wurde von 34 Teilnehmer:innen besucht, und neben Vertreter:innen von Gewerkschaften aus den Bereichen Bau, Forstwirtschaft, Holzindustrie und Straßen-bau (Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Nordmazedonien, Bulgarien, Belgien, Serbien) nahmen auch Vertreter:innen des serbischen Ministeriums für Bau, Verkehr und Infrastruktur, des serbischen Ministeriums für Europäische Integration und des serbischen Ministeriums für Arbeit, Beschäftigung, Veteranen und Soziales an den Arbeiten teil. Aufgrund der Veröffentlichung des jährlichen Fortschrittsberichts der Europäischen Kommission über Serbien für das Jahr 2023 konnte der Koordinator des Nationalen Konvents zur Europäischen Union seine bereits zugesagte Teilnahme leider nicht wahrnehmen. 

Die Teilnehmer:innen wurden mit der serbischen Gesetzgebung, dem Sozialmodell und den wichtigsten Sozialpartnern der EU, dem gewerkschaftlichen Umfeld, dem System der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretung, dem EGB, der Europäischen Föderation der Bau- und Holzarbeiter:innen, der Funktionsweise des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, d. h. der Rolle der Gremien, in denen Gewerkschaftsvertreter:innen mitwirken, mit einer neuen Methodik im Verhandlungsprozess mit der EU, dem aktuellen Stand der Beitrittsverhandlungen und der Rolle der Institutionen im Verhandlungsprozess, den Kriterien, Normen und der Rolle der Gewerkschaften im Verhandlungsprozess sowie mit den Herausforderungen für den Bausektor vertraut gemacht. 

Ziel des Seminars war der Austausch von Erfahrungen und Herausforderungen, mit denen die Bauarbeiter:innen in der Region konfrontiert sind, und die Ermittlung von Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit und gemeinsame Maßnahmen, um die Arbeits- und Sozialrechte sowie die Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit und gemeinsame Maßnahmen auf europäischer Ebene zu verbessern. Das Seminar bot zudem die Gelegenheit, sich mit dem aktuellen Stand und den Perspektiven des Beitritts zur Europäischen Union sowie mit den von der EU festgelegten Normen und Regeln im Bereich des Bauwesens vertraut zu machen. 

Schlussfolgerungen

  1. Die Stärke der gewerkschaftlichen Organisierung in den Ländern der Europäischen Union ergibt sich aus ihrer Vielfalt, die trotz zahlreicher Modelle der gewerkschaftlichen Organisation auf gemeinsamen Werten und dem Ziel beruht, die Interessen der Mitglieder zu vertreten und die Politikgestaltung und Entscheidungsfindung im Bereich der Sozialpolitik zu beeinflussen. 

  2. Die EU-Osterweiterung hat große Erwartungen an die Wirtschaft, die Gesell-schaft und die Arbeitsmärkte der neuen Mitgliedstaaten hervorgerufen und die Hoffnung der Sozialpartner auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeits-bedingungen, neue wirtschaftliche und unternehmerische Möglichkeiten sowie einen besseren Sozialschutz geweckt. 

  3. Den Sozialpartnern in den Beitrittsländern fällt eine Schlüsselrolle im Beitritts-prozess zu, indem sie aktiv an den dreigliedrigen beratenden Beitritts-ausschüssen teilnehmen und die Beziehungen zu den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in Westeuropa stärken. 

  4. Im Rahmen der Harmonisierung der serbischen Gesetzgebung mit der EU-Gesetzgebung im Bereich des Umweltschutzes wurden die Teilnehmer:innen vom serbischen Staatssekretär des Ministeriums für Bau, Verkehr und Infrastruktur über neue gesetzliche Lösungen und Vorschriften zur Energie-effizienz, zum umweltfreundlichen Bauen, zur Lagerung von Bauabfällen, zum Recycling und zur Abwasserbehandlung sowie über Maßnahmen zur finanziellen und personellen Stärkung der Kontrollstellen informiert. 

  5. Gewisse Schwierigkeiten bei der gewerkschaftlichen Organisation und bei Tarifverhandlungen sind in allen EU-Ländern zu beobachten, entweder in Form eines unzureichenden Geltungsbereichs von Tarifverträgen oder einer unzureichenden gewerkschaftlichen Organisation. Die Baugewerkschaften in der Region spielen beim Schutz und bei der Förderung der Interessen der Bauarbeiter:innen eine Schlüsselrolle, sie haben jedoch mit einer schlechten Organisation, fehlenden Kompetenzen und der fehlenden Unterstützung durch staatliche Institutionen zu kämpfen.

  6. Der Bausektor ist von strategischer Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung und die infrastrukturelle Integration der Region, in den Beitritts-ländern ist er jedoch mit einer Reihe von Problemen konfrontiert, wie z. B. niedrigen Löhnen, informeller Beschäftigung, unsicheren Arbeitsbedingungen, ungelernten Arbeitskräften, einem mangelnden Interesse der Jugend an Arbeitsplätzen im Baugewerbe und einer unzureichenden Abdeckung durch Tarifverträge oder dem völligen Fehlen von Branchentarifverträgen. Das größte Problem ist der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften aufgrund der Abwanderung in Länder mit höheren Löhnen und besseren Arbeits-bedingungen. Da es für die Gewerkschaft des Heimatlandes schwierig oder unmöglich ist, die Rechte dieser Arbeitnehmer:innen zu schützen, geht der größte Schutz der Arbeitnehmerrechte von den Gewerkschaften des Aufnahmelandes aus, in dem die Arbeitnehmer:innen arbeiten. Daher ist die Zusammenarbeit zwischen internationalen und europäischen Gewerkschafts-organisationen und den Gewerkschaften der EU-Mitgliedstaaten mit den Gewerkschaften derjenigen Länder, aus denen die Arbeitnehmer:innen kommen, auch von entscheidender Bedeutung. 

  7. Der Prozess des Beitritts zur Europäischen Union bietet eine Gelegenheit, die Position der Bauarbeiter:innen in der Region zu verbessern, es stellt aber auch eine Herausforderung dar, die nationalen Gesetze und Standards mit den europäischen Normen und Methoden zu harmonisieren. Die Beteiligung der Gewerkschaften im Baugewerbe an diesem Prozess ist notwendig, um Einfluss auf die Gestaltung von Politiken und Programmen für den Bausektor sowie auf die Überwachung ihrer Umsetzung zu nehmen. Als Akteure im Prozess der europäischen Integration können die Baugewerkschaften dazu beitragen, die Qualität und Sicherheit der Arbeit zu verbessern, die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer:innen zu schützen sowie Sozialpartnerschaften und den sozialen Dialog auf allen Ebenen zu entwickeln. Die Gewerkschaften beteiligen sich unter anderem folgendermaßen an den Beitrittsverhandlungen: 

    • Teilnahme an der Arbeit in den Arbeitsgruppen, d. h. in den Verhandlungs-gruppen für die Kapitel 2 und 19 zur Harmonisierung der Gesetze und Verord-nungen im Bereich der Sozialpolitik, der Beschäftigung und der Freizügigkeit der Arbeitnehmer:innen sowie Zusammenarbeit mit dem Nationalen Konvent zur Europäischen Union, dessen Mitglieder und Vertreter:innen die serbischen Gewerkschaftszentralen sind; 

    • Beteiligung an der Ausarbeitung des neuen Gesetzes über den Sozial- und Wirtschaftsrat, das im Aktionsplan für Kapitel 19 vorgesehen ist und die Stärkung des sozialen Dialogs insbesondere auf lokaler Ebene sowie einen größeren Einfluss der Gewerkschaften als Zivilgesellschaft impliziert; 

    • Organisation von Kampagnen zur Information der Mitglieder und der breiten Öffentlichkeit über die Vorteile der Übernahme und Umsetzung von EU-Rechtsvorschriften. 

  8. Es wurde die Notwendigkeit hervorgehoben, die Kompetenzen der Gewerk-schaften und die regionale Zusammenarbeit und Solidarität zwischen den Gewerkschaften für eine gemeinsame Vertretung der Interessen der Bauarbeiter:innen auf regionaler und europäischer Ebene zu stärken sowie die Zusammenarbeit mit anderen relevanten Akteur:innen wie Arbeitgeber:innen, staatlichen Institutionen, internationalen Organisationen und zivilen Vereini-gungen zu verbessern. 

  9. Es bedarf weiterer Anstrengungen und vor allem des politischen Willens und Engagements, die Reformen fortzusetzen und zu vertiefen. Die Ankündigung der Europäischen Kommission, dass Serbien bis 2025 der EU beitreten wird, scheint schwer zu erreichen zu sein, sowohl aufgrund des politischen Klimas und des fehlenden Konsenses über eine weitere Erweiterung in der EU selbst als auch aufgrund der großen Zahl neuer von der EU erlassener Vorschriften und der unzureichenden Geschwindigkeit der Harmonisierung der nationalen mit den europäischen Rechtsvorschriften.

Das Engagement der Baugewerkschaften des Westbalkans für die EU-Mitgliedschaft und der Dank an die Europäische Union, das Europäische Zentrum für Arbeitnehmer-fragen und den belgischen ACV Bau – Industrie & Energie, die dieses Seminar finanziell und organisatorisch unterstützt haben, wurden deutlich hervorgehoben, verbunden mit der Einschätzung, dass dieses Seminar die Zusammenarbeit der Gewerkschaften aus der Region verbessert hat.