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Der aktuelle Druck auf dem Arbeitsmarkt: Wie lässt sich der Personalmangel beheben?

Personalmangel stellt heutzutage eine enorme Herausforderung dar. Durch eine Kombination aus Faktoren wie der Coronapandemie, demografischen Veränderungen und einer sehr gut laufenden Wirtschaft erleben wir einen Arbeitsmarkt, der Probleme damit hat, genügend Personal zu finden. 

Über 60 Gewerkschaftsführer:innen aus der EU nahmen an einem zweitägigen Seminar zum Thema „Der aktuelle Druck auf dem Arbeitsmarkt: Wie lässt sich der Personalmangel beheben?“ teil. Das Seminar fand in Den Haag, Niederlande, statt. Die Initiative wurde von WOW-Europe in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum für Arbeitnehmerfragen (EZA) organisiert und von der Europäischen Union finanziert. 

Professor Ulrich Walwei, stellvertretender Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA), stellte fest, dass „sich die deutsche Wirtschaft seit 2020 zwar im Krisenmodus befindet, der Arbeitsmarkt aber immer noch robust ist“. Es lassen sich jedoch zwei große strukturelle Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt erkennen. Die anhaltende Arbeitslosigkeit ist sichtbarer geworden und der Mangel an Fach- und Arbeitskräften hat zugenommen. Dabei gibt es unterschiedliche Gründe für die Schwierigkeit, offene Stellen zu besetzen: Die Arbeitsbedingungen sind nicht wettbewerbsfähig (die Arbeitnehmer:innen wollen etwas anderes, als der Arbeitsmarkt ihnen bietet), die Arbeitgeber:innen zeigen ein wenig überzeugendes Bild ihrer Unternehmen, es herrscht ein Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt usw. Die Zahlen zeigen, dass fast zwei Drittel aller Unternehmen mit Schwierigkeiten bei der Einstellung von Arbeitnehmer:innen rechnen. Daher wird es wichtiger denn je sein, so viele Personen wie möglich in den Arbeitsmarkt einzubinden und die potenziellen Arbeitskräfte durch Bildung, Aus- und Weiterbildung zu qualifizieren.

In ihrer Rede zur Lage der Union 2023 erklärte die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen: „Statt Millionen von Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen, suchen jetzt Millionen von Arbeitsplätzen nach Menschen“. Da der Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel in allen großen Volkswirtschaften ein Rekord-niveau erreicht, geben 74 % der KMU an, dass sie mit einem Fachkräftemangel konfrontiert sind, erklärte Róbert Komáromi, entsandter nationaler Experte, Europäisches Koordinierungsbüro (ECO) Europäische Arbeitsbehörde (Slowakei). Der EURES-Bericht 2022 zeigt, dass es in Europa eine Reihe von bekannten Mangel- und Überschussberufen gibt. Diese sind jedoch nicht in jedem Land gleich, so dass die entsprechenden Engpässe gelöst werden könnten, indem offene Stellen und Arbeits-suchende über Grenzen hinweg zusammengebracht werden. Mithilfe des EURES-Dashboards lässt sich leichter herausfinden, wo genau Engpässe und Überschüsse bestehen.

Der niederländische Arbeitsmarkt ist, wie der deutsche, extrem angespannt. Die Gründe dafür sind laut Michel van Smoorenburg, Internationaler Arbeitsmarktanalyst bei UWV Public Employment Services Netherlands, Abteilung für Arbeitsmarkt-informationen und -beratung (Niederlande), ein hohes Wirtschaftswachstum, eine geringe Zunahme der Arbeitsproduktivität, ein höherer Krankenstand während und nach Corona, eine hohe Fluktuation der Arbeitskräfte und eine sehr flexible Erwerbsbevölkerung (die Niederlande sind führend bei Teilzeitarbeit). Um diesen Fachkräftemangel zu beheben, hat das UWV 34 Lösungen vorgeschlagen, die sich in drei Kategorien unterteilen lassen: die Entdeckung neuer Nachwuchskräfte, eine alternative Organisation der Arbeit und die Bindung und Faszination von Mitarbeiter:innen. „Die meisten Arbeitgeber:innen bemühen sich durch eine Vielzahl von Maßnahmen, den Mangel zu beheben“, erklärte Van Smoorenburg. Eine dieser Maßnahmen besteht darin, die gesamte Arbeitsmarktlücke zu nutzen. Darüber hinaus könnte man versuchen, die Arbeit attraktiver zu gestalten, alle Fähigkeiten zu nutzen und die Einkommensschere zwischen Leistung und Löhnen zu vergrößern, um nur einige Beispiele zu nennen.

Die Arbeitsmarktsituation in Vorarlberg, Österreich, unterscheidet sich nicht wesentlich von der in vielen anderen westeuropäischen Ländern. Die Engpässe finden sich in denselben Sektoren, wie wir sie beispielsweise in Deutschland und den Niederlanden gesehen haben. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass von den 403.000 Einwohner:innen etwa 17.000 in den umliegenden Ländern und der Region arbeiten. Vorarlberg liegt im äußersten Westen Österreichs und grenzt an die Schweiz, Deutschland, Liechtenstein und Tirol. Außerdem gibt es dort eine hohe Fluktuation. Der Grund für Kündigungen und Jobwechsel sei der Wunsch nach mehr Flexibilität und mehr Weiterbildungsmöglichkeiten, so Peter Stieger, Geschäftsführer der Entwicklungsgesellschaft Arbeitsmarkt Vorarlberg – FAV (Österreich). Dieser Wandel des Arbeitsverständnisses wird maßgeblich durch die Coronapandemie verursacht bzw. beschleunigt. Die FAV setzt auf kontinuierliche Weiterbildung, denn „die Fachkräfte von morgen werden nicht geboren. Sie werden ausgebildet“.

Dennis Perrin, Provinzdirektor Alberta, und Andrew Regnerus, Koordinator für Arbeitsbeziehungen in Ontario, beide von CLAC (Kanada), erläuterten die aktuelle Situation auf dem kanadischen Arbeitsmarkt. Mit einer großen Anzahl von Mitgliedern im Gesundheitswesen, im Dienstleistungssektor und im Baugewerbe stehen sie vor genau denselben Problemen wie wir in Europa. Kanada hat eine alternde Bevölkerung, die mehr Pflege benötigt. Außerdem gibt es dort eine alternde Erwerbsbevölkerung, die den Arbeitsmarkt verlässt. In beiden Sektoren mangelt es an Interesse, in diesem Bereich zu arbeiten. Auch hier geht es also darum, die Ausbildung zu verbessern, jeden, der willens und in der Lage ist, einzubinden und sich Ideen aus dem Ausland zu holen (Broadening the Tent[1]). Der Ansatz muss ein persönlicher sein. Man sollte den Anforderungen der (neuen) Arbeitskräfte so weit wie möglich gerecht werden. Mit dieser neuen Realität müssen sich die Arbeitgeber:innen abfinden. 

Die Arbeitgeber:innen haben zunehmend mit dem derzeitigen Arbeitskräftemangel zu kämpfen. Die niederländische Eisenbahngesellschaft NS ist eine solche Arbeitgeberin. Remco de Ruig, Projektmanager für Lernmobilität und Rekrutierung bei der NS (Niederlande), erklärte, dass die NS aufgrund verschiedener Faktoren (Corona, vermehrte Krankheitsausfälle und weniger Fahrgäste) ihren Betrieb reduzieren musste. „Corona war zwar ein Auslöser, aber nicht die Ursache für die Heraus-forderungen auf dem Arbeitsmarkt“, so De Ruig. Eine vorübergehende Maßnahme zur Behebung des Mangels bestand darin, Büropersonal und Zeitarbeitskräfte aus dem Sicherheitsbereich in den Zügen einzusetzen. Der langfristige Aktionsplan sieht vor, die Arbeit anders zu organisieren und den Bedarf an Arbeitskräften durch Automatisierung zu senken. Außerdem versucht man zu zeigen, wie attraktiv die Arbeit sein kann, indem man potenzielle Lokführer:innen in einen Simulator einlädt. Und indem sie pensionierten Mitarbeiter:innen anbieten, auf Teilzeitbasis zu arbeiten. „Wir haben gelernt, dass wir uns nie entspannt zurücklehnen dürfen: Man soll das Dach reparieren, wenn die Sonne scheint. Der/Die Bewerber:in ist König (und nicht der/die Arbeitgeber:in)“, so De Ruig abschließend.

Goce Trajkovski, Generalsekretär und internationaler Sekretär, sowie Valon Ajdini, Mitglied der Finanzgewerkschaft Nordmazedoniens (SFDM), führten eine allgemeine Analyse der Arbeitsmarktbewegungen und der Probleme im Zusammenhang mit dem Arbeitskräftemangel durch. Dabei konzentrierten sie sich auf die Gründe für den globalen Mangel und zeigten Möglichkeiten auf, diesen zu bekämpfen. Im Mittelpunkt der Lösungsansätze standen Programme zur Weiterentwicklung von Qualifikationen und Ausbildungsprogramme, eine bessere Abstimmung der Arbeitsplätze (die Ausbildung muss mit den Bedürfnissen des Marktes übereinstimmen) und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in bestimmten Berufen. Die Arbeit sollte attraktiver werden und den aktuellen Anforderungen und Erwartungen entsprechen, so die Teilnehmer:innen.

Das Seminar wurde mit einer internationalen Debatte am runden Tisch abgeschlossen. Diskussionsteilnehmer:innen aus Spanien, Bosnien und Herzegowina, Dänemark und Spanien erörterten ihre Herausforderungen und Lösungen in ihren jeweiligen Gewerkschaften und Branchen. 

Die beiden Tage in Den Haag haben gezeigt, dass das Problem, Personal zu finden, den Arbeitsmarkt noch einige Jahre lang beschäftigen wird. Einen einfachen Ausweg scheint es nicht zu geben. Mit Erfindungsreichtum und Kreativität sollte es dennoch möglich sein, Antworten auf diese unangenehmen Herausforderungen zu finden. 

 

 


[1] dt. etwa (im übertragenen Sinne): über den Tellerrand schauen (A.d.Ü.)