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Neuer Schwung für die Gleichstellungspolitik? Wiederaufbaupläne nach Corona

Bei der internationalen Tagung der Plattform IPEO, die vom 19. Bis zum 20. September 2022 in Brixen stattfand, organisiert vom AFB - Arbeiter, Freizeit- und Bildungsverein in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum für Arbeitnehmerfragen – EZA und finanziert von der Europäischen Union befassten sich mehr als 45 Vertreter:innen von Arbeitnehmerorganisationen aus Südtirol/Italien, Deutschland, Polen, Lettland, Litauen, Serbien und Albanien unter dem Titel „Neuer Schwung für die Gleichstellungspolitik? Wiederaufbaupläne nach Corona“ mit den politischen Reformen, die aufgrund der Erfahrungen mit der Pandemie in der Arbeitsmarkt-, Familien- und Sozialpolitik in Angriff zu nehmen waren. Trotz einiger positiver Schritte ist, so das Fazit aufgrund von wissenschaftlichen Studien und Länderberichten, von Reformeifer nicht viel zu sehen. Die Chancengleichheit bleibt Stiefkind: Gleichstellungspolitik wird nur als Handlungsfeld unter ferner liefen auf der politischen Agenda eingeordnet. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, der Entscheidungsebenen und der ökonomischen Think Tanks stehen andere Probleme: Die Bewältigung der Spätfolgen der Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die Teuerungswelle bei den Grundnahrungsmitteln, die Unsicherheit über die künftige Energieversorgung und der Wettlauf für die Etablierung einer neuen Weltordnung. Auf Sozialpartnerebene fehlt die Bereitschaft, die sozialen Sicherungssysteme zu erneuern und in der digitalen Arbeitswelt zu verankern und einen konzertierten Prozess für die ökologische Transformation der Wirtschaft voranzubringen.

Nach Lobeshymnen und Balkonserenaden für ihre Systemwirksamkeit haben Frauen berechtigterweise erwartet, dass die strukturellen Reformen zielstrebig in Angriff genommen werden, um die Schieflage in Kernbereichen der gesellschaftlichen Organisation – sprich Familie, Arbeitswelt, Existenzsicherung – zu korrigieren. Es war vor allem ein Verdienst der Frauen, dass das System Gesellschaft während der Pandemie in Gang gehalten worden ist. Sie haben dafür gesorgt, dass in den Familien und in wichtigen Sektoren wie Handel, Bildung, soziale Dienste und Gesundheitswesen der Laden läuft. Doch in Zeiten der Unsicherheit und der interessenpolitischen Kraftakte wird jetzt überall gebremst, wenn es um die Neuausrichtung der Systeme geht. Die Gesetze sind vielfach von dem gesellschaftlichen Rollenbild geprägt, wonach der Mann berufstätig ist und das Geld verdient, um die Familie zu ernähren, und sich die Frau um Haushalt, Kinder und Erziehung kümmert. Tatsächlich jedoch stehen Frauen großteils im Beruf und tragen wesentlich zur Einkommenssicherung für die Familie bei. Frauen sind also mit der Aufgabenstellung konfrontiert, eine mehrfache Verantwortung mitsamt den entsprechenden psychischen Belastungen und organisatorischen Dilemmata zu bewältigen. Das von den Funktionalitätserwartungen der Gesellschaft geprägte Selbstbildnis und die eigene Sensibilität für die familiären Belange sorgen für einen hohen Anpassungs- und Leistungsdruck.

Die politischen Rezepte, die nach der Finanzkrise von 2008 angewendet worden sind, um die arg gebeutelten Haushalte der Länder zu entlasten und das Wirtschaftssystem zu stützen, fußen im Wesentlichen auf einem rigorosen Sparkurs, der die finanziellen Spielräume der Länder stark eingeschränkt hat. Diese Strategie ist wesentlich durch das negative Bild des Staates der neoliberalen Doktrin beeinflusst, die vor allem Margareth Thatcher für eine umfassende Privatisierungswelle von öffentlichen Dienstbarkeiten genutzt hat. Mit diesem Vorbild sind europaweit wesentliche Einschnitte in den Ausgaben für Sozial- und Gesundheitspolitik sowie im Bildungsbereich durchgesetzt worden. In der Pandemie ist zutage getreten, dass die öffentlichen Sozialsysteme, die letztlich die Krise bewältigen mussten, zu stark beschnitten worden sind.

Die EU hat mit dem Programm Next Generation EU einen wichtigen Schritt gesetzt, um die wirtschaftliche Erholung in den Mitgliedsländern zu unterstützen. Die EU-Länder haben erstmals gemeinsam eine Schuldenlast geschultert, um 750 Milliarden Euro für die Neubelebung des Wirtschaftsgefüges und strukturelle Reformen bereitzustellen. Es handelt sich um eine einmalige Maßnahme, die durchaus strukturellen Charakter erhalten könnte, zumal absehbar ist, dass die Mittel, auch angesichts der neuen Herausforderungen durch den Ukrainekrieg nicht ausreichen werden, um die Wirtschaftssysteme der Länder zu stabilisieren. Die EZB hat mit dem Pandemic Emergency Purchase Programme ein zeitlich begrenztes Ankaufprogramm für Anleihen öffentlicher und privater Schuldner in gleicher Höhe bereitgestellt, um während der Pandemie die Geldpolitik zu stabilisieren. Weitere finanzielle Unterstützungen werden durch die Aufstockung des 7-Jahre-Haushalts 2021-2027 der EU und durch die europäische Arbeitslosenversicherung SURE gewährleistet.

Öffentliche Finanzierungen fließen vor allem in jene Wirtschaftszweige, wo große Renditeerwartungen der einflussreichen Investoren bestehen, während zu wenig Mittel für öffentliche Güter wie das Gesundheits-, Sozial- und Erziehungssystem aufgebracht werden. Auch die 750 Milliarden Euro, die die EU für den Wiederaufbau nach der Pandemie zur Verfügung stellt, folgen dieser Logik. Volkswirtschaftliche Analysen beruhen, wie die 2019 von der Financial Times und McKinsey prämierte Studie von Caroline Criado Perez nachgewiesen hat, vor allem auf Erfahrungswerten der Männer und billigen diesen und deren Weltbild normative Relevanz zu. Die Auswahl der Daten folgt diesem Denkansatz. Die Studie hat aufgezeigt, dass dieser Algorithmus auch bei Job-Interviews und der Überprüfung von beruflichen Curricula angewendet wird. Zur Geldpolitik, zum Finanzmarkt, zu den Hedgefonds oder zum Derivatenhandel gibt es keine Daten, die über die Auswirkungen auf Männer und Frauen Aufschluss geben. Die Wertschöpfung, die Frauen durch unbezahlte Arbeit in der Familie, Erziehung und Pflege erbringen, wird von den Indikatoren des Marktsystems gar nicht erfasst und somit auch nicht in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung wahrgenommen.

Der Ausbau der Betreuungsangebote, ein verbesserter Zugang für Frauen zum Arbeitsmarkt und eine auf die Familienverantwortung der Eltern bedachte Arbeitsorganisation sind wichtige Schritte, die in allen EU-Ländern umgesetzt werden müssen. Aufgrund von Betreuungsaufgaben notwendige Teilzeitarbeit muss für den Rentenanspruch anerkannt werden. Die Höhe der Vergütung in der Elternzeit muss es für Besserverdienende attraktiver machen, mehr Zeit der Familie zu widmen. Die Regelwerke sind allgemein, ausgehend vom Grundsatz 50%-50% zielstrebig auf Chancengleichheit auszurichten. Für die Durchsetzung der Ziele ist der überzeugte Einsatz der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer:innenorganisationen auf allen Ebenen zu verstärken. Diese müssen die jeweiligen Regierungen mit der Herausforderung Gleichstellung durch die Einforderung konkreter Benchmarks konfrontieren.

Auf dem Seminar ist festgestellt worden, dass in den einzelnen Ländern die notwendigen Maßnahmen nur halbherzig umgesetzt werden und vermehrt obsolete Rollenbilder die Ausrichtung der Politik bestimmen. Dies ist am Beispiel der Förderung des Arbeitskräftepotenzials der Frauen in Italien nachvollziehbar: Von den 200 Milliarden Euro des Nationalen Wiederaufbauplans PNRR fließt nur ein Anteil von 0,33% in direkte Förderungen der Erwerbstätigkeit der Frauen. Bei der Erwerbsquote der Frauen wird eine Steigerung von 4% angestrebt, viel zu wenig angesichts des Rückstandes der weiblichen Erwerbsquote (53,2%) gegenüber dem EU-Durchschnitt (67,7%) und einer Erwerbsquote in den südlichen Regionen, die nicht über 40% hinausreicht. Das Betreuungsangebot für Kinder zwischen 0 und 3 Jahren soll bis 2030 von 25% auf 33% angehoben werden, ein Ziel, das von der EU bereits für 2010 vorgegeben war. Der Plan bleibt hinter den Erwartungen zurück, die mit dieser einmaligen Chance zur Behebung struktureller Rückstände verbunden waren. Die Gleichstellung bleibt somit oft ein Lippenbekenntnis ohne konkrete und wirksame Umsetzungsschritte.

Mit anderen Vorzeichen, aber mit denselben Belastungseffekten stellt sich das Problem der Gleichstellung in Osteuropa. Dort wird die Erwerbstätigkeit der Frauen als selbstverständlich angesehen, aber ebenso erwartet, dass sie in erster Linie die familiäre Verantwortung und die Betreuungsaufgaben schultern. Die Regierungen sind vor allem mit den Auswirkungen der internationalen Krisenphänomene und strukturellen Problemen bei der Entwicklung des Wirtschafts- und Sozialsystems befasst. Die geringe Sensibilität für Gleichstellungsbelange spiegelt sich im Mangel an entsprechenden Förderungsprojekten und spezifischen Finanzierungen.