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Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und einer funktionierenden Demokratie als Voraussetzung für sozialen Wohlstand: die Rolle der Arbeitnehmerorganisationen

Vom 13. bis 16. Oktober 2022 fand in Marinha Grande, Diözese Leiria/Fátima, ein von LOC/MTC (Liga Operária Católica - Movimento de Trabalhadores Cristãos) veranstaltetes internationales Seminar statt. Thema war die „Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und einer funktionierenden Demokratie als Voraussetzung für sozialen Wohlstand: die Rolle der Arbeitnehmerorganisationen“. Das Seminar wurde finanziert von der Europäischen Union.

Im Wesentlichen wurde es als Präsenzveranstaltung abgehalten, man konnte sich aber auch per Videokonferenz dazuschalten. Daran teil nahmen Mitglieder von LOC/MTC aus verschiedenen Diözesen Portugals, BASE - FUT, FIDESTRA, der Gewerkschaft der Bekleidungs- und Textilarbeiter des Nordens, der portugiesischen Plattform für Frauenrechte, CESMINHO, der Vereinigung der Arbeiterpastorale Portugals sowie Vertreter der KAB aus Deutschland, HOAC aus Spanien, CTC aus der Schweiz sowie Repräsentanten von EZA und MTCE-Europe.

An der Auftaktsitzung nahmen Pater Patrício Oliveira, Pfarrer von Marinha Grande, in Vertretung von José Ornelas de Carvalho, Bischof der Diözese Leiria/Fátima, Maria Neves als Vertreterin des Bürgermeisters von Marinha Grande, Américo Monteiro, Nationaler Koordinator von LOC/MTC sowie João Paulo Branco, Mitglied des EZA-Verwaltungsrats teil. Die Redner brachten ihre Freude über ihre persönliche Anwesenheit zum Ausdruck. In den Beiträgen wurden verschiedene Aspekte hervorgehoben, die die Bedeutung des Kampfes gegen die Gleichgültigkeit, für eine bessere Welt und für die Wiederherstellung der Hoffnung unter den Menschen herausstellten. Es sei notwendig, jeden Tag für die Demokratie zu kämpfen und ein Europa mit starken Demokratien, sozialem Zusammenhalt und einer Wirtschaft für das Gemeinwohl aufzubauen, in dem alle einen Platz haben, von den Jüngsten bis zu den Ältesten. Menschen ohne Hoffnung würden der Demokratie überdrüssig.

Ein modernes und wettbewerbsfähiges Europa könne sich nicht auf eine Wirtschaft stützen, die auf Prekarität und sozialer Ausgrenzung fuße, vielmehr müsse diese auf eine soziale und solidarische Ökonomie basieren, eine Wirtschaft des allgemeinen Wohlstands und der Verteidigung des Gemeinwohls. Es wurden die Werte herausgestellt, die uns heute herausfordern, uns um unser gemeinsames Haus zu kümmern. So seien wir aufgerufen, eine andere Wirtschaft zu schaffen, die Ökonomie von Franziskus. Die Kirche und der Papst fordern uns zur Bedürfnislosigkeit und zum Kampf für den Frieden auf.

Es wurde festgehalten, dass LOC/MTC im nächsten Jahr das Thema: Europäischer Green Deal und Beschäftigung. Fair Transition Fund. Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehungen und die Rolle des sozialen Dialogs. Kreislaufwirtschaft in einem Seminar behandeln möchte, das vom 1. bis 4. Juni 2023 in der Diözese Setúbal stattfinden soll. LOC/MTC habe sich auf ihrem letzten nationalen Kongress das Motto auf die Fahne geschrieben: "Die Arbeit würdiger machen, das gemeinsame Haus pflegen". Diese Eröffnungssitzung endete mit der Verinnerlichung und des Austauschs von Werten, die unsere Militanz als Christen in der Arbeiterklasse bestärken, mit einem offenen Geist und der Bereitschaft zur Diskussion von Ideen. 

Das zentrale Impulsthema des Seminars wurde in fünf Unterthemen aufgefächert und in verschiedenen Panels behandelt: Die erste Sitzung befasste sich mit den "Werten der Rechtsstaatlichkeit und einer partizipativen Demokratie, ihre Bedeutung für den sozialen Wohlstand, die Arbeitnehmer sowie die europäische und globale Gesellschaft.". Fátima Almeida, ehemalige Ko-Präsidentin von MMTC - Weltbewegung christlicher Arbeiternehmer - und Führungskraft von LOC/MTC, reflektierte über repräsentative sowie partizipative Demokratie und die Werte der Rechtsstaatlichkeit. In einer Demokratie gehöre die Macht dem Volk, was durch freie und faire Wahlen zum Ausdruck komme. In einem demokratischen Rechtsstaat stehe niemand über dem Gesetz. Jeder müsse sich an das Gesetz und die Regeln der Demokratie halten. In einem demokratischen Rechtsstaat sei es erforderlich, dass das Recht für alle gleich, fair und konsequent angewendet werde. Die philosophischen Überlegungen, die zur Entstehung der Demokratie geführt haben, brauchten Jahrhunderte und Generationen, um ausgehandelt und vollumfänglich verstanden zu werden. Im Laufe des Prozesses wurden sie immer weiter perfektioniert. So war beispielsweise die Bürgerbeteiligung jahrhundertelang nur den gesellschaftlichen Eliten und Männern vorbehalten. Frauen, Arme und Sklaven waren vom Denken, von der Mitwirkung und der Teilhabe an allen bürgerlichen und demokratischen Akten ausgeschlossen. Dieses Demokratiemodell habe dazu geführt, dass die erste Charta der Menschenrechte "Bill of Rights of Man" genannt wurde. Damals wurde das Wort "Man" [Mann oder Mensch] so verstanden, dass es sowohl Männer als auch Frauen umfasste. Infolge der gesellschaftlichen Entwicklung sei diese Terminologie nicht mehr zeitgemäß und die Charta heiße nun Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Das Konzept des sozialen Dialogs, der Freiheit der Gewerkschaften, das Erringen von Rechten und die Schaffung der ILO und anderer internationaler Institutionen wie der UNO seien die Früchte des demokratischen Systems.

In der zweiten Sitzung befasste sich Raquel Rego, Koordinatorin des REP-Projekts (Repräsentativität der Sozialpartner und ihre Auswirkungen auf die wirtschaftliche Governance) am Institut für Sozialwissenschaften ICS der Universität Lissabon, mit dem Thema "Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit und einer funktionierenden Demokratie als Grundvoraussetzung für sozialen Wohlstand". Sie stellte eine Studie mit dem Titel REP-Repräsentativität der Sozialpartner und die Auswirkungen auf die wirtschaftliche Governance, Repräsentativität von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden vor, an der sie beteiligt war.

Ausgehend von einer doppelten Feststellung, nämlich der Repräsentativität der Sozialpartner und der Funktionsfähigkeit dieser Repräsentativität, verwies sie auf das Konzept der (politischen) Repräsentation in vier Dimensionen, nämlich der deskriptiven, der inhaltlichen, der symbolischen und der formalen, sowie auf die verschiedenen objektiven und subjektiven Kriterien, die in der Europäischen Union nicht immer übereinstimmen. Sie stellte auch zwei Fallstudien vor, eine über die Zersplitterung der gewerkschaftlichen Vertretung am Beispiel der Polizei für öffentliche Sicherheit und eine weitere über die Repräsentativität der Geschlechter im sozialen Dialog. Zu diesem zweiten Fall wurden mehrere Fragen über die Präsenz von Frauen in diesem Bereich der Debatte aufgeworfen und über die Fähigkeit der Arbeitnehmerorganisationen, ihre Positionen zu geschlechtsspezifischen Fragen durchzusetzen.

Die dritte Sitzung wurde von Wilfried Wienen von der KAB Deutschland geleitet, der das Thema "Wichtigste wirtschaftliche und soziale Folgen für Arbeitnehmer und die am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen, die sich aus der Nichtbeachtung der Werte der partizipativen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ergeben " behandelte.

Er stellte seine Überlegungen wie folgt dar: "In einer globalisierten Wirtschaft müssen auch die Arbeitnehmerrechte globalisiert werden. Es hat weltweit zahlreiche Unfälle und Todesfälle von Arbeitern gegeben, die für große europäische Marken produzieren, und diese Marken übernehmen keine Verantwortung, machen die Schäden nicht wieder gut und kündigen die Verträge solcher Unterlieferanten danach nicht auf. Für einen wirksamen Schutz der Menschenrechte, der Arbeitnehmerrechte und der Umwelt entlang der Lieferketten sind globale Rechtssysteme erforderlich“. In diesem Zusammenhang wurde die Initiative eines EU-Lieferkettengesetzes vorgestellt und erörtert. Die Unternehmen müssen für die Einhaltung der Menschenrechte, die Nachhaltigkeit und die Wiedergutmachung von Schäden entlang der gesamten Lieferkette zur Verantwortung gezogen werden und dies müsse einklagbar sein, unabhängig davon, in welchen Ländern die Produktion ausgelagert sei, selbst wenn dort nicht dieselben Gesetze wie in Europa anwendbar seien. Es gelte nun, diese Gesetzgebung in der Europäischen Union voranzutreiben.

In der vierten Sitzung befasste sich Maria José Rodriguez, HOAC-Mitglied aus Spanien, mit dem Thema: "Werte, die zur Würde am Arbeitsplatz und der am meisten gefährdeten Arbeitnehmer beitragen. Unsere Rolle bei ihrer Verteidigung in einer Demokratie und einem Rechtsstaat mit Blick auf die Nachhaltigkeit". Der gesellschaftliche Kontext, in dem wir heute leben, sei durch einen tiefgreifenden sozialen Wandel gekennzeichnet. Seit Beginn dieses Jahrhunderts haben wir drei Krisen durchlebt: die Wirtschaftskrise, die Pandemie und den Krieg in der Ukraine. Sie alle stünden unter dem Vorzeichen des Neoliberalismus, mit sehr ähnlichen Auswirkungen und Folgen: zunehmende Ungleichheiten, Prekarität, Arbeitslosigkeit, Verarmung, Ausgrenzung, Schmerz und wachsendes Leid für Millionen von Menschen, die Opfer von Ungerechtigkeiten und eines Wirtschaftssystems seien, das töte, hindere es doch Menschen und Familien daran, in Würde zu leben.

Wir leben in einer Wirtschaftsdiktatur, in der der Wille des Kapitals stets über die Volkssouveränität gestellt werde. Wer das Geld kontrolliere, kontrolliere die politische Macht. Dieses soziale und kulturelle Modell zerstöre die Gesellschaft, das gemeinsame Haus und den humanen Geist mit verheerenden Auswirkungen auf die Arbeitswelt, die Demokratien und das gemeinsame Haus.

Wir brauchen eine andere, radikal andere Logik der Gemeinschaft, die alles neu erschaffe. Ein Mentalitätswandel, um das Virus des Individualismus und der Gleichgültigkeit zu überwinden. Wir sind dazu aufgerufen, Brüderlichkeit und Solidarität zu schaffen und uns um die Menschen und den Planeten zu kümmern. Als Christen haben wir Jesus von Nazareth als Lebensmodell und Wegweiser, der uns hilft, unsere Existenz auf eine andere Logik auszurichten, die die Gemeinschaft, das Vertrauen in Gott und die Suche nach Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stelle.

Die fünfte Sitzung fand in Form eines runden Tisches statt und befasste sich mit dem Thema "Achtung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit im Hinblick auf die soziale Absicherung und die Menschenwürde, Lage in einem jeden Land". Vertreter aus 4 Ländern, Portugal, Spanien, der Schweiz und Deutschland, nahmen daran teil. Alexandra Silva von der Portugiesischen Plattform für Frauenrechte stellte die Belange und Herausforderungen in Portugal in Bezug auf die Gleichberechtigung von Frauen vor. Sie berichtete über Aspekte der bestehenden Diskriminierung, Prostitution und Ausbeutung, denen sie ausgesetzt seien, neben vielen anderen Diskriminierungen sowie über die Arbeit ihrer Plattform. Melchior Kanyamibwa der Schweizerischen CTC und Koordinator von MTCE hob Aspekte der sozialen und demokratischen Teilhabe in seinem Land, Migranten und Flüchtlinge sowie die Herausforderungen hervor, denen diese gegenüberstehen. Er schilderte über seine Erfahrungen und seine neuen Aufgaben als Koordinator der MTCE im Dienste der europäischen Bewegungen und Arbeitnehmer. Angelines Bayo von HOAC in Spanien äußerte sich besorgt über die spanische Demokratie, die immer mehr ausgehöhlt werde. Sie sprach die Arbeitssituation der in Spanien ankommenden Flüchtlingen und Migranten und die Schwierigkeiten an, mit denen sie konfrontiert seien. Ferner Pflegekräfte, meist Frauen, und ihren erschwerten Zugang zu existenzsichernder und legaler Arbeit. Johannes Eschweiler von der KAB Deutschland sprach mit uns über deren Aktionen für Arbeitnehmer in besonders benachteiligten Branchen, insbesondere Wanderarbeiter, die kurzfristig in Deutschland arbeiten. Sie leben mitunter in sklavenähnlichen Verhältnissen, zumal sie nur mit einem 3-Monats-Visum einreisen und dann viele Stunden am Stück unter erschwerten Bedingungen und zu sehr niedrigen Löhnen in der Landwirtschaft, der Fleischindustrie, der Pflege usw. sich abmühen müssen. Er schilderte uns, was Bewegungen wie die KAB und andere Partner bei der Unterstützung dieser Arbeitnehmer bewirken können.

Wir besuchten zudem das Unternehmen VIDREXPORT aus Marinha Grande, welches Glas fertigt, ist dies doch der größte und geschichtsträchtigste Industriezweig der Stadt. In dieser Firma konnten wir die Weiterentwicklung in der Glasherstellung anhand der Automatisierung und des Einsatzes von Robotern beobachten, Trotzdem werden immer noch manuelle, kunstvolle Ausführungen geschätzt. Nach der Besichtigung wurde uns eine wichtige persönliche Lebensgeschichte in der Glasindustrie zuteil, eine Zeitreise durch die Arbeitswelt anhand gelebter Erfahrungen sowie der Kämpfe der Glasarbeiter in Marinha Grande. Die Entwicklung der Glasindustrie im Laufe der Zeit, die Jahre der Krise und der Arbeitslosigkeit, schließlich die Umschulung von Arbeitnehmern, um sie in anderen Branchen einzusetzen. Marinha Grande sei derzeit eine der Gegenden Portugals mit der niedrigsten Arbeitslosenquote, und auch die Löhne seien im Vergleich zu anderen Branchen und Regionen des Landes nicht wesentlich niedriger.