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Die Verbesserung von psychischen und sozialen Arbeitsbedingungen als wichtiges Instrument zur Vermeidung von Gesundheitsgefährdungen im Bereich der Muskel- und Skeletterkrankungen (die neue Kampagne der EU-OSHA)

Vom 29.6. bis 2.7.2021 fand in Porto und Herzogenrath ein Seminar zum Thema „Die Verbesserung von psychischen und sozialen Arbeitsbedingungen als wichtiges Instrument zur Vermeidung von Gesundheitsgefährdungen im Bereich der Muskel- und Skeletterkrankungen (die neue Kampagne der EU-OSHA)“ als Hybrid-Veranstaltung statt, unterstützt durch EZA und die Europäische Union.

Muskel- und Skeletterkrankungen (MSE) gehören zu den häufigsten arbeitsbedingten Erkrankungen. Millionen von Arbeitnehmern überall in Europa sind davon betroffen, die Kosten für Arbeitgeber belaufen sich auf Milliarden Euro. Die Bekämpfung von MSE trägt dazu bei, das Leben der Arbeitnehmer zu verbessern, ist aber auch wirtschaftlich sinnvoll. (https://osha.europa.eu/de/themes/musculoskeletal-disorders). Mit unserem Seminar haben wir die Kampagne der europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz aufgegriffen. Unser Ziel dabei war, dass Gewerkschaften und Arbeitnehmerorganisationen sich des Themas annehmen und so die angebotenen Hilfen der OSHA-Kampagne nutzen können, um Präventionsansätze zu fördern.

Das Seminar wurde wegen der Einstufung Portugals als Virusvariantengebiet zusätzlich zum Tagungshotel in Porto (30 Personen aus Portugal, Belgien, Bulgarien, Lettland, Litauen und Rumänien) auch in einem Veranstaltungsraum in Herzogenrath (9 Personen aus Deutschland) und rein online (2 Personen aus Deutschland und Portugal) angeboten.

Neben einer einführenden Erläuterung der Kampagne gab es einen Praxisbericht aus einer Arbeitsinspektion in Rumänien (Emilia Lumei), zwei Fachimpulse zu den Themen „Zusammenhang von Stress, Konflikten und anderen psychischen Belastungen und Muskel-Skeletterkrankungen (MSE)“ und „Prävention von beruflich bedingtem Stress sowie arbeitsbedingten Erkrankungen“ durch die Leiterin des Lehr- und Forschungsgebiets Betriebliche Gesundheitspsychologie am Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der RWTH Aachen (Univ.-Prof. Dr. rer. soc. Jessica Lang) und praxisbezogene Fachimpulse zur Einführung in einen interaktiven Workshop „institutionelle Fallarbeit“ durch die Bereichsleiterin im Nell-Breuning-Haus und selbstständige Therapeutin und Supervisorin Dr. Christina Herrmann.

Sämtliche Fachimpulse konnten aufzeigen, dass ein (mittelbar) kausaler Zusammenhang von beruflich bedingtem Stress und MSE existiert und dieser auch durch umfassende Studien belegbar ist. Die Metaanalyse diverser Studien seit 2008 durch die RWTH Aachen ergab einen signifikanten Zusammenhang etwa von hohen Jobanforderungen, geringer sozialer Unterstützung (privat, Kolleg:innen) zu Beschwerden im Rücken und Nackenbereich. Die Gestaltung des Vierecks von Arbeitsinhalt – Arbeitsorganisation – Arbeitsumgebung - soziale Beziehungen der Arbeitnehmer:in entscheidet darüber, ob die Arbeitnehmer:innen von Stressoren betroffen sind oder ressourcevoll arbeiten. Schon daran lässt sich ablesen, dass die Arbeitgeber:innen mindestens zu drei Vierteln an der Salutogenese ihrer Belegschaft Anteil haben (müssen). Die Vulnerabilität des Individuums spielt zwar wie immer bei der „Verträglichkeit“ von Stressoren eine Rolle, jedoch dürfen Maßnahmen nicht auf die Individuen abgewälzt werden und in deren alleinigen Verantwortungsbereich fallen. Resilienz stärken beim Einzelnen ja, aber nicht um den Preis, dass immer schlechter werdende Arbeitsbedingungen besser ertragen werden.

Wie wichtig es ist, die Arbeitsinspektion in den Ländern weiter auszubauen, konnten sowohl Jovita Pretzsch (Solidarumas, Litauen) als auch Emilia Lumei aus Cluj/Rumänien eindrücklich schildern. Letztere zeigte auf, welche Folgen es hat, wenn sich in der Fläche nur eine Handvoll Inspektor:innen um eine Vielzahl von Unternehmen kümmern kann. Das führt zu einkalkuliertem Missbrauch von Arbeitsschutz und -sicherheit. Der gesetzlich fixierte Ausbau der Arbeitsinspektionen gehört ebenso zum Katalog der Forderungen am Ende des Seminars wie auch die strategische Zusammenarbeit der Gewerkschaften mit den Arbeitsinspektionen. Tipps für letztere gab Jovita Pretzsch in ihrem Bericht. Die Präsentation der OSHA-Kampagne durch Silviu Ispas (ifes) führte das Seminar noch zu einem weiteren Punkt, den volks- und betriebswirtschaftlichen Schäden eines in Unternehmen ignorierten Gesundheitsmanagements. Die langfristigen Auswirkungen zeigen sich in Frühverrentungen, Arbeitsunfähigkeiten, Depressionen. Die Arbeitgeber:innen müssen stärker in die Pflicht genommen werden. Das, was die europäische Gesetzeslage längst hergibt, wird in den Betrieben noch immer unterlaufen. Nur etwa 30% aller Betriebe EU-weit kann mit Maßnahmen gegen Stress aufwarten. Nach Prof. Lang fehlt es an Knowhow, an klaren Zuständigkeiten, haben Arbeitsschutzakteure wenig Einfluss und man befürchtet Konflikte und Konfrontationen. Psychische und physische Gefährdungsbeurteilungen sind in Deutschland beispielsweise die Pflicht des Arbeitgebers. Ihr Anliegen ist es, dieses Top down-Thema durch mehr Beratung von Expert:innen an die Geschäftsführungen und Unternehmensleitungen heranzubringen. Dazu zählen Wissenschaftler:innen wie Gewerkschafter:innen. Letztlich ist es ein crosssektionales Thema.

Veselin Mitov (Podkrepa, Bulgarien) leitete schließlich über zum Maßnahmenkatalog und den Handlungsempfehlungen für den sozialen Dialog. In der von Dr. Christina Herrmann (NBH) angeleiteten design thinking Methode Ideensprint hatten die Teilnehmenden in zwei Arbeitsgruppen Gelegenheit, sich mit ihren größten Herausforderungen vor Ort in ihrer Beratungsarbeit zur Lösungsfindung der kollegialen Beratung zu versichern. Ergebnisse:

Die Spannbreite war groß und reichte von der Einrichtung betrieblicher Ruhe/Fitnessräume, der verpflichtenden Einrichtung von Klimaanlagen in der Produktion, Schichtrotationen bei monotonen Arbeitsabläufen bis zu eher strategischen Lösungen. Gewerkschaften könnten Befragungen in den Unternehmen unterstützen, die Verbesserungspotentiale heben. Sie könnten sich gezielt bei Unternehmen auf die Suche nach best practices machen und diese auch besonders würdigen/auszeichnen. Die frühe und intensivere Ausgestaltung der Beziehung mit den Arbeitsinspektionen wurde schon genannt. So könnten diese regelmäßig zu Mitarbeiterversammlungen geladen werden, mit kleinen Impulsvorträgen zu Gefährdungsprävention etc. Schließlich könnten aus dieser Verbindung auch Angebote für Führungskräfte zum Thema Disstressing entstehen. Gewerkschaften und Arbeitsinspektion könnten Rundtisch-Gespräche führen und an einem Strang ziehen. Gespräche mit Politiker:innen sollten dazu führen, dass in den Ländern sogenannte Gesundheitspakete geschnürt werden, wie Arztkoffer für die jeweiligen Branchen. Oder Gesundheitspakete, die konkret Gesetzesvorgaben in betriebliche und gewerkschaftliche Maßnahmen für einzelne Branchen übersetzen.

Kurz: dieses Seminar zeigte einmal mehr, wie wichtig die vernetzende Arbeit von EZA in diesem Bereich ist.