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Mechanismen der Ungleichheit und Ausgrenzung auf dem europäischen Arbeitsmarkt: Was sind die Ursachen und wie können wir sie bekämpfen?

Als Frau in Europa zu leben, ist nicht schlecht. Aber nicht schlecht ist nicht gut genug, so Helena Dalli, EU-Kommissarin für Gleichstellung, in ihrer Videobotschaft an die Teilnehmer/innen des diesjährigen EZA-Startseminars. „Mechanismen der Ungleichheit und Ausgrenzung auf dem europäischen Arbeitsmarkt: Was sind die Ursachen und wie können wir sie bekämpfen?“ war das Thema und umfasste die Aspekte Männer und Frauen, Migranten/innen, LGBTQ+ sowie Menschen mit (arbeitsrelevanter) Behinderung.

Das Seminar wurde gemeinsam mit EUROMF und der Internationalen Plattform für Chancengleichheit (IPEO) sowie mit Unterstützung von Beweging.Academie, Europees Forum und ACV BIE Internationaal organisiert, fand vom 19. bis 20. November 2020 statt und wurde unterstützt durch die Europäische Union.

Rund 100 Vertreter/innen von Arbeitnehmerorganisationen und aus der Wissenschaft diskutierten über mögliche Lösungsansätze. Besonderheit dieses Jahr: Aufgrund der Covid 19-Pandemie fand das Startseminar erstmals online statt.

Aus Exklusion muss Inklusion werden, forderte EZA-Präsident Luc Van den Brande in seinem Grußwort. Die Integration von benachteiligten Gruppen in den Arbeitsmarkt voranzutreiben, habe sich EZA schon seit seiner Gründung 1985 auf die Fahnen geschrieben. Die Situation junger und älterer Arbeitnehmer/innen, von Migranten/innen, das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen, das Verhältnis von bezahlter und unbezahlter Arbeit – diese und viele andere Aspekte der Thematik würden regelmäßig von den EZA-Mitgliedzentren in ihren Seminaren behandelt. Viele Fortschritte seien europaweit gelungen – doch in der aktuellen Covid 19-Krise drohten viele Errungenschaften verloren zu gehen. Bei allen Anstrengungen müsse im Blick bleiben, dass es immer auch darum gehe, sozialen Zusammenhalt zu sichern – auf nationaler Ebene und EU-weit. Jede/r in der EU solle sich frei und sicher fühlen können. Keine/r dürfe aus der menschlichen Familie ausgeschlossen werden.

Gleichstellung von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt

Lesia Radelicki, Kabinettsmitglied von Helena Dalli, unterstrich die Bedeutung der Gleichstellungsstrategie 2020-2024 für die Europäischen Kommission. Auch würden gendersensible Antworten auf die Covid 19-Krise gesucht. Um faire Bezahlung und Anerkennung für Frauen zu erreichen, seien nicht nur legislative, sondern auch andere Maßnahmen nötig. Zur gendersensiblen Ausrichtung der gesamten Europäischen Kommission sei eine Taskforce eingerichtet worden, in der u.a. die Gleichstellungsbeauftragten der Generaldirektionen mitarbeiten. Die einzelnen Kommissare/innen seien aufgefordert, hier eng zusammenzuarbeiten. Ziel sei es, dass jede/r in der Gesellschaft die gleichen Rechte erfahre. Keine/r solle diskriminiert werden. Die Europäische Union solle kohärent nach innen und außen agieren. Die Bedeutung des Themas schlage sich auch im mehrjährigen Finanzrahmen nieder. Die Zivilgesellschaft spiele in allen Gleichstellungsfragen in Europa eine sehr wichtige Rolle.

Sozialer Dialog in Europa

Jörg Tagger, Referatsleiter „Sozialer Dialog“ der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration der Europäischen Kommission, erläuterte die Anpassungen der EU-Arbeitsmarktpolitiken aufgrund der Covid 19-Krise. Außergewöhnliche Ereignisse erforderten außergewöhnliche Maßnahmen, so Tagger. Dies zeige sich im mehrjährigen Finanzrahmen – in dem unter anderem auch mehr Mittel für EZA vorgesehen seien – und im Wiederaufbauplan für Europa. Alle Sozialpartner müssten an Bord sein, um gemeinsam die Auswirkungen der Krise zu bewältigen.

Als Leuchtturminitiative der Europäischen Kommission hob er die Initiative zum europäischen Mindestlohn hervor, mit der vor allem die derzeitigen Ungleichgewichte angegangen werden sollen. Außerdem bekäme die Europäische Säule sozialer Rechte einen neuen Anstoß durch den für Mai 2021 geplanten Gipfel in Porto, bei dem es insbesondere um deren konkrete Umsetzung gehe.

Geschlechtergleichstellung

Jeroen Lievens stellte eine Fallstudie zur Arbeitszeitverkürzung vor – ein Projekt des Frauennetzwerks von beweging.net, Femma. Die 58 Beschäftigten konnten dabei für ein Jahr ihre Arbeitszeit auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich verkürzen, um bezahlte und unbezahlte Arbeit besser auszugleichen und Familienarbeit mehr Wertschätzung entgegenbringen zu können. Als Ergebnis konnte mehr Lebensqualität und mehr Zufriedenheit festgestellt werden, sowohl privat als auch beruflich.

Marieke van den Brink, Professorin für Geschlechtergleichstellung und Diversität der Radboud-Universität Nijmegen, referierte über organisatorische Prozesse, um in der Arbeitswelt zu mehr Gleichstellung zu kommen. Je nach Sektoren gebe es sehr unterschiedliche Genderungleichheit am Arbeitsplatz. Nach wie vor seien sehr wenige Frauen in Leitungsfunktionen und gleichzeitig noch immer mehr Frauen als Männer in prekären Arbeitsverhältnissen, arbeiteten mehr Frauen in Teilzeit und nähmen mehr Frauen Elternzeit. Sie stellte verschiedene Theorien vor, um zu mehr Gleichberechtigung am Arbeitsplatz zu kommen, und hob hervor, dass dazu organisatorische Strukturen sowie „inclusive leadership“ wichtig seien. Diversität müsse zugelassen werden, um die Vorteile davon überhaupt sehen zu können.

Cindy Franssen MEP unterstrich, echter Wandel könne nur stattfinden, wenn überkommene Denkweisen überwunden würden. Grundrechte seien nicht verhandelbar, alle müssten in ihren Genuss kommen, die gläserne Decke müsse weiter aufgebrochen werden. Sie begrüßte die derzeitige Initiative der Europäischen Kommission in Sachen Gleichstellung, allerdings blieben noch zu viele Ungleichheiten. Es brauche nachhaltige, zukunftsträchtige Arbeitsplätze, die für alle erreichbar seien ebenso wie die Mitwirkung der Arbeitnehmerorganisationen.

LGBTQ+

Ellen Delvaux stellte IDEWE, einen externen Dienst für Prävention und Schutz am Arbeitsplatz, vor und gab einen Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen in der EU. Sie beleuchtete die Gruppe der LGBTQ+ als Risikogruppe für psychische Belastungen am Arbeitsplatz und unterstrich deren Benachteiligung bei Berufseinstieg, Karrierechancen und Gehältern.

Ellis Aukema vom flämischen Dachverband der LGBTQ+-Organisationen benannte Bildung und die Entwicklung von Problembewusstsein als Schlüssel für mehr Akzeptanz in der Gesellschaft und stellte das Projekt PREVENT vor.

Einig waren sich beide Referentinnen, dass sowohl LGBTQ+-Arbeitnehmer/innen als auch deren Kollegen/innen Unbehagen am Arbeitsplatz verspürten. Durch „inclusive leadership“ könne eine günstige Arbeitsatmosphäre geschaffen werden. Ein Umdenken müsse unbedingt gesamtgesellschaftlich einsetzen.

Migranten/innen

Patrizia Zanoni, Professorin für Organisationsstudien an der Universität Utrecht, gab einen Überblick über Migration in der EU. Unter Arbeitsmigranten/innen gäbe es viele prekäre Arbeitsverhältnisse, viel Teilzeit und viele seien nicht repräsentiert. Vor allem für Migranten/innen von außerhalb der EU bestünde ein großes Armutsrisiko. Auf den Arbeitsmigranten/innen läge ein permanenter Druck, als sehr heterogene Gruppe seien sie insgesamt sehr verletzlich. Für Arbeitnehmerorganisationen sei die Mobilisierung von Migranten/innen ein großes Thema. Wenn Arbeitnehmerorganisationen weiterhin politische Bedeutung haben wollten, müssten sie insgesamt diverser werden und brauche es eine ausgewogene Vertretung von Arbeitnehmern/innen.

Dirk Van Laethem stellte das Projekt „In de zorg – uit de zorgen” vor, ein Projekt, in dem Flüchtlinge gezielt und grenzübergreifend zu Pflegekräften ausgebildet wurden und das vom Verband Familiehulp in Flandern/Belgien in Zusammenarbeit mit Partnern aus Deutschland, den Niederlanden und Belgien realisiert wurde.

Menschen mit (arbeitsrelevanter) Behinderung

Eline Jammaers, Professorin an der Katholischen Universität Löwen, rief den Teilnehmern/innen ins Bewusstsein, dass jeder sechste Mensch weltweit eine Behinderung habe. Menschen mit Behinderung seien vielen Stereotypen und Diskriminierung ausgesetzt. Die Arbeitswelt sei oft nicht auf Behinderungen eingestellt, mit der Folge, dass nur sehr wenige Menschen mit Behinderung überhaupt einen Arbeitsplatz finden. Hilfreich können Beschäftigungsquoten für Arbeitnehmer/innen mit Behinderungen sein, wie dies in einigen zentraleuropäischen Ländern der Fall sei. Ebenso sei von Bedeutung, Fördermittel zur Gestaltung behindertengerechter Arbeitsplätze bereitzustellen. Es müsse unbedingt das Verständnis füreinander und die Kompetenzen für den Umgang miteinander verbessert werden. Auch hier sei „inclusive leadership“ von Vorteil.

Schlussworte

Heidi Rabensteiner von der Internationalen Plattform für Chancengleichheit forderte, Kinderbetreuung und Pflegezeit müssten für die Rente angerechnet, Karrierechancen für Frauen in Führungspositionen verbessert werden. Flexible Arbeitszeiten für Frauen und Männer für eine bessere Aufteilung der Familienverantwortung sowie Gleichheit bei Chancen im Beruf und bei der Entlohnung seien unbedingt notwendig. Auch unbezahlte Arbeit müsse gerechter zwischen den Geschlechtern aufgeteilt werden.

Sigrid Schraml, EZA-Generalsekretärin, forderte Arbeitnehmerorganisationen auf, sich weiterhin für benachteiligte Gruppen auf dem Arbeitsmarkt einzusetzen und dabei auch bisher vernachlässigte Gruppen wie bspw. LGBTQ+ in den Blick zu nehmen. Man müsse sich mit gegenseitigem Respekt und Toleranz begegnen, die Würde jedes einzelnen Menschen sei unbedingt zu wahren.