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Die Welt der digitalen Arbeit – Industrie 4.0: Neue Chancen für junge Menschen

Vom 13. bis 15. November 2018 fand in Straßburg ein Seminar zum Thema „Die Welt der digitalen Arbeit – Industrie 4.0: Neue Chancen für junge Menschen“ statt, organisiert von ACLI - ENAIP (Associazioni Cristiane Lavoratori Italiani - Ente Nazionale ACLI Istruzione Professionale), mit Unterstützung von EZA und der Europäischen Union. Das Seminar war Teil der EZA-Projektkoordinierung zum Thema „Arbeiten und leben in einer digitalisierten Welt“.

60 Teilnehmer aus Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, dem Vereinigten Königreich, Spanisch, Litauen, den Niederlanden, der Schweiz und Brasilien (letztere als Gäste) nahmen an der Veranstaltung teil.

Die Frage nach der Zukunft der Arbeit wird in allen EU-Mitgliedsstaaten diskutiert und debattiert. Das Interesse an dieser Frage ist unterdessen alles andere als neu: der kontinuierliche Wandel von Wesen und Definition der Arbeit war stets der Motor für die Entwicklung neuer wirtschaftspolitischer Konzepte und Initiativen, deren große Zahl und Bandbreite das europäische Modell seit jeher geprägt und bereichert haben.

Zusätzlich zu der weltweiten Verteilung des Wohlstands, die sich infolge der Globalisierung und der Handelsöffnung radikal verändert hat, ist die Auswirkung des technologischen Wandels auf den Arbeitsmarkt in Europa im Vergleich zu den anderen Weltmächten eine der Hauptursachen dieser Krise. Dieser Wandel hat die Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber und die Arbeitsabläufe des Arbeitnehmers selbst verändert und in einigen Fällen substanziell umgestaltet.

Im Rahmen dieses Seminars versuchten wir in der Diskussion von Beiträgen namhafter Sozialwissenschaftler und politischer Experten aus unterschiedlichen EU-Staaten, die Einflüsse von Digitalisierung und Industrie 4.0 auf das Leben der Arbeitnehmer ebenso kenntlich zu machen wie die Chancen, die sich aus den betreffenden Entwicklungen ergeben. Ferner galt es, die Probleme zu identifizieren, für die eine Lösung ausschließlich durch eine enge Zusammenarbeit zwischen den europäischen Nationen gefunden werden kann.

Die Geschwindigkeit dieser Digitalisierung der Arbeitswelt verleiht einschlägigen Diskussionen eine besondere Dringlichkeit. Im Verlauf des Jahres 2017 haben wir erlebt, wie das öffentliche Interesse an dieser Frage zugenommen hat – und wie die Beiträge von ACLI zu dieser auch in Italien lebhaft geführten Diskussion auf ein wachsendes Interesse gestoßen sind.

Kern des Projektes war das Vorhaben zur Schaffung einer Plattform für EZA / Industrie 4.0 bzw. die Vorbereitung einer politischen Plattform für ACLI mit Blick auf die kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament. Angesichts der Bedeutung dieses Ereignisses müssen sich Arbeitnehmerorganisationen – insbesondere proeuropäische Organisationen wie ACLI –ihrer einschlägigen gesellschaftlichen Verantwortung stellen. Das Ziel war zunächst die Bildung einer konstituierenden Arbeitsgruppe.

Thematisch im Vordergrund standen die Herausforderungen an den Arbeitsmarkt, án die demographische Entwicklung und an die Umwelt. Der Schutz von Arbeitnehmern und Bürgern in Europa muss verbessert werden. Bildung und Ausbildung wurden als stützende Horizontalelemente des „sozialen Pfeilers” identifiziert (Göteborg 2017). Strategien zum Erwerb neuen Wissens werden in der Zukunft noch wichtiger sein als heute.

All diese Veränderungen werden die kulturellen Gräben zwischen den unterschiedlichen Altersgruppen innerhalb unserer Gesellschaft vertiefen und  neue Gräben in den Organisationen aufreißen, die sich mit dem Thema Arbeit auseinandersetzen. Unsere Organisationen müssen offener, dynamischer und flexibler werden. Wir müssen die bestehenden Strukturen und Modelle unserer Organisationen von Grund auf überdenken und neue Mindeststandards festlegen. Technologische Innovation muss zu gesellschaftlicher Innovation führen: sonst drohen uns Rückschritte und Rückschläge. Die Agenda 2030 der Vereinten Nationen hat hier neue Maßstäbe gesetzt. Das soziale Modell muss Priorität vor der Technologie genießen und darf nicht von der Technologie bestimmt werden, aber ebensowenig können wir die politische Verantwortung für eine Politik einfordern, die das soziale Modell der Zukunft in Anlehnung an eine Gesellschaft gestalten will, die es in dieser Form nicht mehr gibt.

Die vierte industrielle Revolution und die mit ungeheurer Geschwindigkeit voranschreitende Entwicklung der digitalen Wirtschaft haben schon jetzt produktionstechnische Verfahren und Abläufe ebenso grundlegend verändert wie Berufsbilder, Bildungssysteme, Ausbildungsprofile und deren begriffliche Bezugsrahmen. Und wenig spricht für die Annahme, dass sich diese Entwicklung in der näheren Zukunft verlangsamen wird.

Die schon heute zu Tage tretende Polarisierung zwischen hochspezialisierten und innovationsfesten Arbeitsplätzen wird sich weiter verschärfen, und Arbeitnehmer mit niedrigem Qualifikationsniveau – die überwiegend „körperliche Arbeit” leisten – werden immer weniger vertraglichen und rechtlichen Schutz vor den Gesetzen des Marktes erhalten.

Vertraute Strukturen der Arbeit verlieren an Bedeutung. Was noch gestern gängige Praxis war, wird mehr und mehr durch neue Formen der Arbeit ersetzt, die – zumindest zu Beginn der Entwicklung – als Schritte auf dem Weg zu mehr Freiheit und Autonomie für die Arbeitnehmer bzw. zu einer besseren Ausschöpfung individueller Potenziale angepriesen wurden.

Überlegungen machen die folgenden zwei Zielgruppen klar, die den Veränderungen durch die vierte industrielle Revolution unterliegen: Junge Menschen leiden besonders unter der seit 2008 anhaltenden Wirtschaftskrise und sind schlecht für die Herausforderungen gerüstet, die durch das Tempo der Veränderungen an dem bestehenden Wirtschaftsmodell entstanden. Europa muss entscheiden, welche Formen der Hilfestellung – jenseits der Schutzmechanismen konventioneller Industriepolitik im Rahmen des „fordistischen” Modells – es den Menschen zu geben gedenkt, die sich unter diesen Umständen auf ihre ersten Schritte in der Arbeitswelt vorbereiten. Darüber hinaus müssen wir uns der Aufgabe stellen, den Beitrag, den Frauen zu unserer Gesellschaft leisten, in der Zukunft angemessener zu würdigen.

Ferner war es unser Ziel, die Durchführung einer umfassenden Studie zur Erforschung der Arbeit in Pflege und Betreuung anzuregen. Angesichts der vorauszusehenden demographischen Entwicklung in Europa wird Pflegearbeit in den kommenden Jahrzehnten eine immer wichtigere Rolle in unseren sozialen Sicherungssystemen einnehmen. Ein tiefgreifender Wandel der Arbeitswelt kann unter diesen Umständen das Verhältnis der Generationen zueinander verändern und die Aufgabe noch dringlicher machen, neue Formen gesellschaftlicher Unterstützung für Arbeiten der Pflege und Betreuung innerhalb der Familie zu entwickeln.

Alle Referenten steuerten Überlegungen und Vorschläge für eine Bewältigung der unterschiedlichen Herausforderungen von Industrie 4.0 bei. Kritische Sachverhalte und Probleme wurden ebenso dargestellt wie Vorschläge zu deren Lösung und realistische Konzepte zur weiteren Berücksichtigung in den Diskussionen von Politik und Organisationen der Zivilgesellschaft.

Roberto Rossini, der Präsident des Verbands Christlicher Arbeitnehmer in Italien (ACLI) und des Internationalen Verbands Christlicher Arbeitnehmer in Italien (FAI), skizzierte Wesen und Aufgaben des Seminars: im Gegensatz zu einer politischen Konferenz sei es wichtiger, die richtigen Fragen zu stellen als fertige Antworten zu präsentieren. Ferner werde den Teilnehmern die Gelegenheit geboten, sich aus erster Hand über die Situation in anderen Ländern zu informieren. Historiker, so Roberto Rossini, teilten die Geschichte der modernen Industrie in vier Epochen auf: die erste industrielle Revolution sei in der Hoffnung auf neue Freiheiten entstanden, die zweite im Zuge der Ausweitung des „technologisch-wissenschaftlichen Paradigmas” auf alle Bereiche des Lebens, die Fabrik ebenso wie rationale und effiziente staatliche Institutionen. Dieser Epoche der engen Vernetzung von Wissenschaft, Technologie und Politik bzw. ihrem Leitgedanken, dass robuste organisatorische Strukturen die Grundlage eines gesunden Gemeinwesens legten, verdankten nicht nur politische Parteien und Organisationen wie ACLI ihre Existenz, sondern auch deren struktureller Überbau von Verfassungen, Parlamenten und repräsentativer Demokratie. Der Staat habe in diesen Jahren eine entscheidende Rolle eingenommen. Im Verlauf der dritten industriellen Revolution – in den späten 60er und den 70er Jahren – habe sich im Zeichen der zunehmenden Integration von Elementen der Elektronik und Automatisierung in die Produktionsketten die Idee des Kapitalismus verändert. Verbraucherverhalten und Bürgerrechte seien einem Prozess der Fragmentierung ausgesetzt worden, in dessen Verlauf sich die Demokratie des Volkes zu einer Demokratie der „atomisierten Öffentlichkeit” entwickelt habe. Die vierte industrielle Revolution sei mit der Geburt des Internets Mitte der 90er Jahre entstanden und werde unsere Wahrnehmung der Realität von Grund auf ändern. Dinge würden in der Zukunft als Produkte von Beziehungen zwischen Menschen wahrgenommen. Arbeitsverträge würden an Komplexität zunehmen und den Arbeitnehmern weniger Rechte einräumen. Menschen hätten zunehmend das Gefühl, in einer Gesellschaft ohne allgemein akzeptierte Wahrheiten und Ordnungsprinzipien bzw. ohne Kategorien zu leben, die sich zu einer überschauenden Zusammenfassung eigneten. Wir müssten lernen, wie diese Welt und ihr gesellschaftliches Leben funktionieren. Die parlamentarische Demokratie habe bis weit in die Epoche der zweiten industriellen Revolution hinein als vorherrschendes Modell gegolten, aber das Konzept der direkten Demokratie gewinne mehr und mehr an Boden, da wir die Gelegenheit zu einer direkten Teilnahme verspürten. Wir seien aber nach wie vor mit den Mustern einer indirekten Vertretung unserer Interessen vertraut, und die von uns errichteten Institutionen beruhten auf dem Fundament einer repräsentativen Demokratie.

Wie können wir die Arbeitnehmern der Industrie 4.0 organisieren? Wie führen wir die Diskussion über aktuelle politische Fragen? Wie vertreten wir unsere Anliegen und wie werben wir für unsere Prinzipien in der Arbeitswelt von heute? Ist eine soziale Plattform noch ein geeignetes Mittel? Roberto Rossini argumentierte für die Notwendigkeit eines neuen gesellschaftlichen und kulturellen Rahmens, der vielleicht auch neue organisatorische Strukturen anbieten müsse. Arbeit entferne sich zusehends aus der Dimension der Politik: Arbeit habe einst einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau der politischen Strukturen geleistet, sei dazu aber im Zeichen des technologischen, demographischen und klimatischen Wandels nicht mehr in der Lage. Wir müssten Konzepte entwickeln, die den Menschen der Zukunft ihre Wettbewerbsfähigkeit auf den Arbeitsmärkten erhalten und in globalen Kategorien zu denken lernen, da diese Probleme nicht im lokalen Rahmen zu lösen seien. Diese Überlegung, resümierte Roberto Rossini, sei seiner Organisation wohlvertraut: ACLI habe stets erkannt, dass technologische Veränderungen auch gesellschaftliche Veränderungen nach sich zögen.

Francesco Seghezzi, der Direktor des Verbandes für vergleichende Studien internationaler Arbeitsbeziehungen ADAPT, beschrieb die Entwicklung moderner industrieller Verfahrentechnik als eine fortschreitende Entwicklung des „Dialogs zwischen Maschinen“ unter Ausschaltung menschlicher Komponenten. Technologie zerstöre Arbeitsplätze: die Entwicklung habe mit der Landwirtschaft begonnen und sei noch längst nicht zu Ende, und es sei schwierig abzusehen, wer die neu entstehenden Arbeitsplätze übernehmen könne. Die Gesellschaft der Zukunft werde an einem Arbeitskräftemangel leiden: die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegsjahre gingen dem Ruhestand entgegen oder seien in neuen Branchen tätig. Schon bald werde das Angebot an Arbeitskräften die Nachfrage nicht mehr decken können: moderne Technologie ersetze zusehends menschliche Arbeitskraft auch in den monotonen, wiederkehrenden Abläufen der klassischen Bürotätigkeit (z.B. in Callzentren und Verwaltungsabteilungen). Die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft werde sich überwiegend auf zwei Bereiche konzentrieren: nicht-repetitive manuelle Arbeit (z.B. in Pflege, Sicherheit und menschlichen Beziehungen) und anspruchsvolle Bürotätigkeiten (Beratung, kreative Tätigkeiten, Design). Hier drohe die Gefahr einer Polarisierung mit schweren Konsequenzen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir müssten neue kulturelle Konzepte für die Festlegung gerechter Löhne entwickeln und Mehrwert nicht ausschliesslich durch wirtschaftlichen, sondern auch durch gesellschaftlichen Nutzen definieren. Die Schaffung gesellschaftlichen Nutzens werde im aktuellen System allenfalls unzureichend belohnt. In der Arbeitswelt würden Kenntnisse und Qualifikationen einem konstanten Zwang zur Aktualisierung unterliegen. Der Erwerb transversaler Kompetenzen erfordere den Übergang der Vermarktung von Produkten zu einer Vermarktung der Produkte und verbundener Dienstleistungen, nicht zuletzt im Zeichen einer kontinuierlich zunehmenden Komplexität der vermarkteten Produkte. Unternehmen müssten sich unterdessen zu Orten der lebenslangen Aus- und Fortbildung entwickeln: dies werde enorme Auswirkungen nicht zuletzt auf die gesellschaftliche Rolle des Unternehmers haben, der für die kontinuierliche Aus- und Fortbildung seiner Belegschaft verantwortlich sei. Die Unternehmen der Zukunft könnten sich nicht mehr darauf verlassen, im Bedarfsfall Arbeitskräfte für jede erdenkliche Tätigkeit auf dem freien Arbeitsmarkt aufspüren zu können und müssten zunehmend die langfristige Verpflichtung zur Ausbildung ihrer Belegschaft übernehmen. In diesem Kräftefeld, so Francesco Seghezzi, ergäben sich Chancen sowie Herausforderungen für die Gewerkschaften der Zukunft – von der Notwendigkeit einer neuen Zertifizierung technischer Kompetenzen, die das Recht der Arbeitnehmer auf eine freie Wahl ihres Arbeitsplatzes nicht einenge, und dem Schutz individueller Arbeitsplätze bis hin zu den nicht an bestimmte Arbeitsplätze gebundenen Mechanismen zum Schutz der Arbeitnehmer. Die Pfeiler des aus dem 20. Jahrhundert übernommenen Systems der Lohnarbeit seien ins Wanken geraten: Arbeitszeiten, Sozialleistungen, das Konzept des Arbeitsplatzes schlechthin würden in Frage gestellt. Bei allen Vorteilen eines Systems des „Smart Working” dürfe den Arbeitnehmern das „Recht aufs Abschalten” nicht verweigert werden. „Technologie darf nicht als die schicksalhafte Bestimmung der Menschheit missverstanden werden,” betonte Francesco Seghezzi: wir müssten uns die Fähigkeit zur Gestaltung des Übergangs von einem System zum anderen bewahren und nicht in „technologischen Determinismus” verfallen.

EZA-Koordinator Rainer Rissmayer erläuterte das Selbstverständnis der Digitalisierung als einem Prozess der Beschleunigung und die in diesem Zusammenhang wachsende Bedeutung der Resilienz zur Bewältigung von Krisen. Wer verfügt über Waren und Produktionsgüter? fragte er und erklärte das Problem anhand des Busunternehmers Flixbus, der nicht im Besitz der Transportmittel, wohl aber in Kontrolle des Leistungspakets sei. Solch ein System schaffe Chancen und Risiken. Digitalisierung müsse geplant und sorgfältig konzipiert werden. Wir stünden noch am Anfang dieser Entwicklung, die wir durchaus meistern könnten. Hierzu sei jedoch eine Umgestaltung der Bildungssysteme erforderlich, deren aktuelle Form den bestehenden Herausforderungen nicht gerecht würden. Dies, so Rainer Rissmayer, gelte auch für das oft gelobte „duale” Modell der beruflichen Bildung in Deutschland.

Nach den Worten von Emiliano Manfredonia, dem Präsidenten der Stiftung Patronato ACLI und Vizepräsidenten von ACLI, ist ein „Krieg zwischen den Generationen ebenso entbrannt wie ein Krieg zwischen den jungen Menschen und dem Staat”. Derzeit müssten fünf Arbeitnehmer ihre berufliche Laufbahn beenden, um einen einzigen Arbeitsplatz freizumachen. Alle Länder hätten Maßnahmen zur Erhöhung des Rentenalters getroffen, aber  Italiens Rentenreform – die so genannte Fornero-Reform – sei beispiellos in ihrer Radikalität. Bereits seit 1996 können Renten unter die Mindestsschwelle (Sozialrente) von 507 EUR fallen – es sei möglich, dass Rentner monatlich zwischen 50 und 150 EUR erhielten. Ein Staat, der auf diese Weise Armut erzeuge, könne für sich nicht länger das Etikett eines „Wohlfahrtsstaates” in Anspruch nehmen. Die Definition sozialer Sicherheit müsse auf dem Wortlaut des Artikels 38 in der italienischen Verfassung aufbauen: „Jeder arbeitsunfähige Staatsbürger, dem die zum Leben erforderlichen Mittel fehlen, hat Anspruch auf Unterhalt und Fürsorge. Arbeitnehmer haben Anspruch auf Bereitstellung und Gewährleistung der ihren Lebenserfordernissen angemessenen Mittel bei Unfällen, Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und Alter sowie bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit.“ Der Staat von heute stehe nicht mehr an der Seite der Arbeitnehmer, sondern verhandele mit seinen Bürgern über den Umfang ihrer Rechte. Patronato ACLI, so ihr Präsident Emiliano Manfredonia, werde hingegen weiterhin für die Interessen der Arbeitnehmer kämpfen – dies sei eine Aufgabe, die sich von ihrem Wesen her der Automatisierung widersetze. ACLI fordere, das Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt durch stabile Bestimmungen zu regeln – eine so wichtige Regelung könne nicht jedes Jahr neu formuliert werden. Zur Sicherung angemessener Einkommen müsse eine adäquate Mindestrente festgelegt werden (unter Berücksichtigung aller zusätzlichen Einnahmen aus Nebentätigkeiten). Lücken im System seien ggf. durch Zusatzrenten zu füllen.

Juliet Webster, Dozentin für Gleichstellungspolitik an der Offenen Universität von Katalonien, erläuterte die mangelnde Ausgewogenheit geschlechtsspezifischer Risiken in der digitalen Arbeit. Eingedenk des besonderen, oftmals informell in sozialen Netzwerken ausgehandelten Charakters einschlägiger Arbeitsverhältnisse drohe sich hier eine „normalisierte“ und „institutionalisierte“ Benachteiligung von Arbeitnehmerinnen zu entwickeln. Die Formen dieser „informellen“ Arbeitsverhältnisse hätten sich seit der Jahrtausendwende sprunghaft vermehrt. In diesem Zusammenhang seien auch die unbezahlten, von den Verbrauchern selbst verrichteten Tätigkeiten zu berücksichtigen, die noch vor wenigen Jahren von Arbeitnehmern im Dienstleistungsgewerbe erledigt wurden (z.B.: das Ausfüllen von Zahlungsformularen in Banken und Sparkassen). Die Individualisierung der Arbeit nehme ebenso zu wie das „Personal Branding“ und das „Identity Management“ (Marketing der eigenen Persönlichkeit). Wer in der Welt der freien Online-Tätigkeit überleben wolle, müsse lernen, sich selbst kontinuierlich zu vermarkten. Arbeiten in den neuen Medien, oftmals in befristeten und prekären Beschäftigungsverhältnissen, würden überwiegend von Frauen erledigt. Diese Arbeitnehmerinnen könnten nur wenige Rechte geltend machen, da ihre Arbeit in einem weitgehend gewerkschaftsfreien Raum stattfinde – und sie müssten für ihre Beschäftigung einen hohen Preis in der Form von Stress, familiären Konflikten und gestörten persönlichen Beziehungen entrichten. Das Problem sei auf einen einfachen Nenner zu bringen: wir wälzen die Aufgabe zur Bewältigung struktureller Probleme auf Individuen ab, statt uns gemeinschaftlich dieser sozialen Verantwortung zu stellen.

Barbara De Micheli von der Giacomo-Brodolini-Stiftung bekräftigte die Notwendigkeit einer eingehenden Analyse der Beziehungen zwischen Arbeitsraum und Arbeitsform, welche die bestehenden Arbeiten über die Wechselwirkungen zwischen Arbeitszeit und Arbeitsformen zu ergänzen habe. Hierbei gelte es, über ein Studium der physischen Eigenschaften von Arbeitsräumlichkeiten die Beziehungen zu würdigen, die einschlägige Räume erschaffen. Die mutmaßliche Abwesenheit von Arbeitsräumen in der digitalen Arbeitswelt sei mit einem Wandel der Konzeption von Arbeitraum und dessen Abgrenzungen verbunden. Für viele Tätigkeiten in der digitalen Arbeitswelt stelle sich die Frage nach dem „wo?“ in einer völlig neuen Weise: digitale Arbeitnehmer haben sich praktisch von der Räumlichkeit der Arbeitswelt losgelöst und können überall ihrer Tätigkeit nachgehen, im Ausland oder auf „Urlaub“. Diese Digitalisierung der Arbeit einschließlich von Prozessen wie Entscheidungsfindung und strukturellem Wandel sei durch die industrielle Herstellung von Mikroprozessoren ermöglicht worden. Technologien aber brächten nicht nur Vorteile, sondern auch Probleme mit sich. Die Arbeit ohne räumliche Grenzen kann den Arbeitnehmern neue Freiheiten bringen, aber auch neue Einschränkungen. Digitalisierung verschafft dem Arbeitgeber neue Methoden zur Kontrolle der Arbeitnehmer: mehr Digitalisierung bedeutet nicht automatisch mehr Autonomie. Wenn wir nichts zur Schaffung einer Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern in unserer „realen“ Arbeitswelt unternehmen, sei die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich die mit einem solchen geschlechterspezifischen Gefälle verbundenen Probleme auch in der digitalen Arbeitswelt bemerkbar machten.

Silvia Costa MdEP sprach über die 16 konkrete Maßnahmen umfassende digitale Strategie der Europäischen Kommission. Die europäische Rahmenrichtlinie sehe Rechte und Garantien für Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen vor, aber diese nominell „atypischen“ Beschäftigungsverhältnisse würden mehr und mehr zur Norm. Die „Gig Economy“ mit ihrem Versprechen regelmäßiger Kleinaufträge für selbständig und freiberuflich tätige Arbeitnehmer schaffe keine festen Arbeitsplätze und trage nur wenig zur Hebung des allgemeinen Ausbildungsniveaus bei. Berufliche Aus- und Fortbildung spiele hingegen eine zentrale Rolle in der neuen Wohlfahrtswirtschaft: wenn sich das Wesen der Arbeit ändere, müssten wir gemeinsam Schritt halten.

Das Konzept des Generationenvertrags basiere auf unserem Verständnis der Mutter-Kind-Beziehung bzw. der Eltern-Kind-Beziehung (eine Erweiterung der jüngeren Vergangenheit unter Berücksichtigung der Chancengleichheit von Mann und Frau, wie die Entwicklung der „Elternzeit“ demonstriert) und diene durch fürsorgliche Behandlung schutzbedürftiger Familienmitglieder (Kinder, Senioren) der Verteidigung der Kernfamilie. Dies gestalte sich jedoch für viele Familien in der Praxis als ein Problem, für dessen Bewältigung sie die Unterstützung des Staates und entsprechender Organisationen des „dritten Sektors“ benötigten. Dieser Bedarf an Familienarbeit könne sichere Arbeitsplätze erzeugen. Eine Verdoppelung unserer Investitionen in den Pflegebereich könne Tausenden von Menschen sinnvolle, menschenwürdige Arbeit verschaffen.

Im Gefolge des sozialen Gipfels von Göteborg hat sich das öffentliche Klima gewandelt. Es wird zunehmend anerkannt, dass „Sozialpolitik und die Verteilung gesellschaftlicher Güter“ im Sinne einer gegenseitigen Integration wirtschaftlicher und sozialer Prinzipien neu durchdacht werden müssen. Bislang haben wir zunächst der Wirtschaft den Vortritt gelassen und sozialpolitische Eingriffe erst später zur Korrektur der Folgen dieser Politik vorgenommen: beides wird künftig miteinander zu verzahnen sein. Armut ist nicht zuletzt auch ein Produkt des Mangels an Bildungs- und Ausbildungschancen. In der nahen Zukunft wird eine neue Richtlinie durch Verordnungen zur Arbeitszeit, zu einschlägigen Einschränkungen und zu einschlägigen Standards die Beziehung zwischen Arbeit und Familie regeln. Die Verordnung der italienischen Regierung zur Verkürzung der väterlichen Elternzeit von vier Tagen wird im Lichte dieser neuen Richtlinie – die eine Elternzeit von mindestens zehn Tagen vorsieht – rückgängig gemacht werden müssen. Die neue Richtlinie soll insbesondere für solche Personen EU-weite Mindeststandards setzen, die „informelle“ Pflegedienste leisten: Schutz und Entlastung für diese Männer und Frauen ist eine dringliche Aufgabe, denn wir wissen aus Erfahrung, dass diese Pflegepersonen durch ihre Arbeitsüberlastung nicht selten selbst zu Pflegefällen werden. Wir müssen die potenziell grenzübergreifende Dimension von Wohlfahrtsleistungen und deren Mobilität erkennen und erforschen. Die grenzübergreifenden Erfahrungen europäischer Studenten können hier Pate stehen. Durch Vereinbarungen mit Unterkünften, Krankenhäusern und Ausbildungseinrichtungen können die Voraussetzungen für ein europaweites Aus- und Fortbildungssystem geschaffen werden, das es in dieser Form noch nicht gibt. Aber wo steht geschrieben, dass das bestehende Erasmus-System nicht von seiner schmalen auf eine breitere Spur wechseln kann? Dies ist der erweiterte Nutzeffekt von Studien. Die Familie ist eine starke Institution, aber auch eine Institution unter Druck: der Trend zu Individualisierung und Isolation droht sie weiter zu schwächen. Neue Lösungen zur Verteilung gesellschaftlicher Güter müssen dies berücksichtigen und sich von dieser Individualisierung verabschieden. Digitale Kompetenzen sind enger denn je mit sozialen Kompetenzen verflochten.

Adam Rogalewski vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss EESC erinnerte daran, dass manche europäische Länder im Zeichen der demographischen Entwicklung und der Kürzung staatlicher Ausgaben einem drastischen Mangel an Pflegekräften entgegengehen. Angesichts dieser Entwicklung sei eine Förderung der Einwanderung aus den Staaten Osteuropas oft die einzige Lösung. Bei Einwanderern aus Polen handele es sich zumeist um Frauen im Alter zwischen 40 und 50 Jahren: zu jung für den Ruhestand, aber zu alt für eine umfassende Umschulung. Im Gefolge dieser Auswanderung wüchsen viele junge Menschen ohne ihre Mütter auf, die als Alten- und Krankenpflegerinnen in westlichen Ländern tätig seien. Probleme, die aus dieser Entwicklung resultierten, seien nur in einem globalen Rahmen zu lösen. Die Lohnarbeit im Haushalt müsse als Problem des Arbeitskreislaufs betrachtet, der Kompetenz der einzelnen Mitgliedsstaaten entzogen und in den Zuständigkeitsbereich der EU-Kommission überführt werden. Erst eine grenzübergreifende Regelung der Qualitätsstandards in der europäischen Pflegeversorgung durch einschlägige EU-Bestimmungen schaffe die Voraussetzungen für eine Entlohnung entsprechender Tätigkeiten, die deren gesellschaftliche Bedeutung reflektiert und die dieser Bedeutung gerecht wird.

Ergebnisse des Seminars:

Das Seminar schlägt vor, auf Grundlage des von den anwesenden Organisationen geförderten sozialen Dialogs eine gemeinsame Plattform für EZA / Industrie 4.0 zu erstellen und mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament ACLI zu sondierenden Maßnahmen für den Aufbau einer politischen Plattform zu beauftragen. Angesichts der Bedeutung dieses Ereignisses müssen sich Arbeitnehmerorganisationen – insbesondere proeuropäische Organisationen wie ACLI – ihrer einschlägigen gesellschaftlichen Verantwortung stellen. Das Ziel ist der Aufbau eines Workshops für die Verbreitung vorbildlicher Praktiken und neuer Modelle sozialer Verantwortlichkeit, die im Zeichen einer beschleunigten Ausbreitung der Industrie 4.0 und ihrer neuer Konzepte von Arbeit den berechtigten Erwartungen und dem Bedarf der europäischen Bürger nach Aus- und Fortbildung, Information, einer kontinuierlichen Aktualisierung ihrer Kenntnisse und wirksamem Schutz entsprechen.