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Faire Arbeitsbedingungen: Die europäische Säule für soziale Rechte als Grundlage für einen neuen Sozialpartnerkonsens

„Faire Arbeitsbedingungen: Die europäische Säule für soziale Rechte als Grundlage für einen neuen Sozialpartnerkonsens“, so der Titel der internationalen Tagung, die der Arbeiter-, Freizeit- und Bildungsverein (AFB) und das Europäischen Zentrums für Arbeitnehmerfragen (EZA) in Nals (Italien) am 10. und 11. Mai 2019 durchgeführt haben. An der Tagung nahmen über 70 Vertreter/innen von Arbeitnehmerorganisationen aus Südtirol/Italien, Deutschland, Österreich, Luxemburg, Belgien, Tschechien, Polen und Serbien teil. Das Symposium wurde durch die Europäische Union unterstützt.

Die „Europäische Säule für soziale Rechte“ (ESSR) bildet eine gute Grundlage dafür, an der Schwelle zum digitalen Zeitalter gezielte Weichenstellungen vorzunehmen, um das europäische Sozialstaatsmodell weiterzuentwickeln. In allen Mitgliedsländern sind von Politik und Sozialpartnern gemeinsam Anstrengungen zu unternehmen, um die Arbeitsgesellschaft der Zukunft an den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Gewährleistung der Mitsprache der Beschäftigten auszurichten. Dies ist das Fazit der Tagung, auf der die Teilnehmer/innen die vom Europäischen Parlament, dem Rat und der EU-Kommission 2017 veröffentlichte Proklamation zur „Europäischen Säule für soziale Rechte“ (ESSR) unter die Lupe genommen haben. Wie EZA-Co-Präsident Piergiorgio Sciacqua haben dabei Wissenschaftler und Gewerkschaftsvertreter die Funktion dieses Grundsatzpapiers als Impulsgeber unterstrichen. Es ist zugleich Bekenntnis zum Sozialmodell Europas, Reformauftrag und Forderungskatalog. In der Wertetradition der kirchlichen Enzykliken zur Arbeitswelt stehend, bestätigt die ESSR die in der EZA tätigen Organisationen in ihrem sozialen Engagement.

In 20 Punkten benennt die ESSR all jene Bereiche, in denen Entwicklungsschritte notwendig sind, vom Zugang zum Arbeitsmarkt über die Chancengleichheit und faire Arbeitsbedingungen bis hin zum Sozialschutz und zur sozialen Inklusion. Kernaspekte sind u. a. die Verankerung des Rechts auf allgemeine und berufliche Bildung, auf Unterstützung der Beschäftigungsfähigkeit und sozialen Schutz bei beruflichen Übergängen. Für junge Menschen wird das Recht auf Weiterbildung, einen Ausbildungs- oder Praktikumsplatz sowie auf ein Beschäftigungsangebot innerhalb von vier Monaten ab dem Abschluss der Ausbildung oder dem Zeitpunkt der Arbeitslosigkeit festgeschrieben. Auch das Thema Chancengleichheit wird umfassend als Rechtsanspruch definiert.

Im Abschnitt zu den „fairen Arbeitsbedingungen“ stehen den Flexibilitätserfordernissen der Arbeitgeber die Postulate nach Unterbindung prekärer Beschäftigungsverhältnisse sowie die Definition formaler Garantien zu Beschäftigungsbedingungen und Kündigungsschutz gegenüber. Unterstrichen wird außerdem das Recht auf angemessene Mindestentlohnung, die das Auskommen der Arbeitnehmer/innen und ihrer Familien gewährleistet, und Maßnahmen zur Vereinbarung von Berufs- und Privatleben. Der soziale Dialog als Methode der gemeinsamen Wahrnehmung der Verantwortung der Sozialpartner und die Tarifautonomie werden bekräftigt. Umfassend dargestellt werden schließlich die Erfordernisse des Sozialschutzes, u.a. die Förderung und Betreuung der Kinder, die Gesundheitsversorgung, die Unterstützung bei Arbeitslosigkeit und Armut, angemessene Rentenbezüge, Langzeitpflege, Wohnraumbeschaffung.

Die ESSR wurde seit deren Proklamation verschiedentlich wegen dem Mangel an Rechtsverbindlichkeit und der Anerkennung der Flexibilitätsansprüche der Unternehmen an den Arbeitsmarkt kritisiert. Es besteht nämlich dringender Handlungsbedarf: Die Zahlen zur Entwicklung der Löhne und der sozialen Schutzstandards belegen in der Tat, dass faire Lohn- und Arbeitsbedingungen in dieser Zeit des wirtschaftlichen Umbruchs und der mehr oder weniger expliziten Aufkündigung der Sozialpartnerschaft immer wieder von neuem in Frage gestellt sind. Unternehmen stehen international und auch lokal in Konkurrenz und tendieren dazu, ihre Wettbewerbsfähigkeit mit Abstrichen bei Arbeitskosten und Arbeitsschutz zu sichern. Durch Opting-out-Klauseln und Sozialdumping beim Abschluss von Kollektivverträgen werden bestehende Standards für Lohngerechtigkeit und soziale Sicherheit unterlaufen. Zahlreiche Regierungen in den Mitgliedsländern sind von der Praxis der Konzertierung der sozialpolitischen Maßnahmen mit den Gewerkschaften abgerückt und leisten damit dem Abbau der sozialen Rechte und des Sozialschutzes Vorschub. Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den gewerkschaftlichen Organisationsgrad der ArbeitnehmerInnen.

Dennoch stellt die EU für die Arbeitnehmer/innen angesichts einer deregulierten Arbeitswelt und eines markanten neoliberalen Machtanspruchs eine zentrale Hoffnungsbastion dar. Dies belegt die Geschichte des europäischen Einigungsprozesses. Die Europäische Gemeinschaft ist seit ihren Anfängen mit der Montanunion auch ein soziales Projekt. Schon bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahr 1951 stand neben der Förderung der wirtschaftlichen Prosperität und Zusammenarbeit die „Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter“ (Art. 3) im Mittelpunkt und zwar durch Maßnahmen gegen Lohndumping und die Sicherstellung der transnationalen Mobilität sowie der Vorschrift für die Mitgliedsstaaten, „jede Diskriminierung bei der Entlohnung und der Arbeitsbedingungen zwischen inländischen und zugewanderten Arbeitern zu verbieten“ (Art. 69). Damals wurden mit der EGKS Weichenstellungen gesetzt, um länderübergreifend die Industrialisierung zu unterstützen und den in die im Aufbau befindlichen Industriedistrikte strömenden Arbeitnehmern/innen angemessene Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Heute stehen wir erneut vor einem großen Umbruch der Wirtschafts-und Arbeitswelt. Die Adaptierung der im Industriezeitalter erkämpften Schutzstandards an die digitale Arbeitswelt kann am erfolgreichsten gestaltet werden, wenn entsprechende Regelwerke auf europäischer Ebene vereinbart werden.

Es gereicht den Gewerkschaften und Sozialverbänden dabei zum Vorteil, dass die soziale Dimension der EU in den EU-Verträgen verankert und durch Richtlinien in Bezug auf Schutzgarantien sukzessive bestätigt und ausgebaut worden ist. Durch die Festlegung von Mindeststandards (z.B. hinsichtlich Arbeitszeit, Urlaub, Leiharbeit, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Mutterschutz) hat die EU wesentlich dazu beigetragen, den Schutz der Arbeitnehmer/innen zu verbessern. Koordinierte Politikprogramme für Beschäftigung, Gleichberechtigung und berufliche Bildung und umfassende Förderungen wie der ESF stützen diesen Ansatz. Der soziale Dialog ist ein Grundsatz, der von der EU auf allen Ebenen propagiert wird, um den Arbeitnehmervertretungen die Mitsprache zu ermöglichen. Angesichts dieser Fakten scheint die verbreitete Europaskepsis vor allem auf den Mangel an Informationen zurückzuführen.

Dass es seit der Proklamation der ESSR nicht gelungen ist, sie auf EU-Ebene in verbindliche Rechtsnormen bzw. sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen umzumünzen, zeigt, dass große Widerstände überwunden werden müssen.

Auf der EZA-Tagung ist festgestellt worden, dass die EU mit der ESSR, ihrer Rechtsordnung und ihrer Geschichte Fakten und Argumente im Kampf gegen die Prekarisierung der Arbeitsverträge, die Aushöhlung des Sozialstaates und die Zurückdrängung der Mitsprache der Gewerkschaften bereitstellt. Es geht darum, die Würde der Arbeit und der Arbeitnehmer/innen und die Ethik des Modells der sozialen Marktwirtschaft gegen Entgrenzungstendenzen in der Gesellschaft zu verteidigen. Gewerkschaften und Sozialverbände sind dazu aufgerufen, den Druck auf die Sozialpartner und die Entscheidungsträger in Brüssel zu erhöhen, damit die allgemein gehaltenen Grundsätze der Proklamation in verbindliche Maßnahmen umgemünzt werden. Sie müssen sich besser Gehör in der Öffentlichkeit verschaffen und, genauso wie die EU als Institution, die Erfolge und die Leistungen der EU aktiver vermitteln.