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Europäischer sozialer Deal – Wo stehen wir heute?

„Europäischer sozialer Deal – Wo stehen wir heute?“ war das Thema der von der EU finanziell geförderten EZA-Konferenz am 03./04. März 2020 in Brüssel. Rund 100 Teilnehmer/innen aus ca. europäischen 20 Ländern erörterten die Zukunft des sozialen Europas und die sozial- und arbeitnehmerpolitischen Initiativen, die von der neuen Europäischen Kommission (EK) von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen begonnen wurden. Dabei stand die Koordinierung von Mindestlöhnen und der Systeme sozialer Sicherheit ebenso im Mittelpunkt wie die Zukunft der beruflichen Bildung im digitalen Zeitalter.

Nicolas Schmit, Kommissar der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration, machte klar, dass sich die Europäische Union (EU) in Bezug auf Digitalisierung und Klimawandel in einer Umbruchphase befinde und es darauf ankomme, diese gerecht zu gestalten und vor allem die sozialen Aspekte dieser Veränderungen in den Blick zu nehmen, damit alle als Gewinner/innen daraus hervorgehen können.

Daher gelte es, Geschlechtergerechtigkeit und Jugendbeschäftigung in den Blick zu nehmen und eine starke Strategie zur Armutsbekämpfung zu erarbeiten. Dazu seien faire Mindestlöhne, die ein würdiges Leben ermöglichten, ebenso erforderlich wie die Förderung und Stärkung von Tarifverhandlungen und -verträgen. Starke Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen seien deshalb notwendig, auch um die Demokratie zu stärken. Europa müsse mehr in Soziales investieren und die Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) müsse umgesetzt werden, um Ungleichheiten zu bekämpfen und dafür zu sorgen, niemanden zurückzulassen, wie Kommissionspräsidentin von der Leyen anstrebt.

Der internationale Sekretär der bulgarischen Gewerkschaft PODKREPA und stellvertretende Vorsitzende von EZA, Vesselin Mitov, der auch Arbeitnehmervertreter im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist, betonte die Bedeutung der ESSR und nannte die wachsende Unsicherheit in Bezug auf Arbeitsmarktzugänge und Arbeitsbeziehungen und Ungleichheit in der EU eine zentrale Herausforderung für die europäische Politik. Um unfreiwillige Migration innerhalb der EU zu bekämpfen, forderte er würdige Mindestlöhne und eine aufholende Lohnentwicklung, die nur vorangetrieben werden könnte, wenn ein positives Klima des sozialen Dialogs überall vorhanden sei. Außerdem setzte er sich für eine verbesserte Jugendgarantie ein und rief die politisch Verantwortlichen dazu auf, rasch auf die Herausforderungen zu antworten.

Ein stärkeres soziales Europa, wie es in der ESSR vorgezeichnet sei, wäre aus Sicht von Liina Carr, Verbandssekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) ein wichtiger Beitrag zur Zukunft Europas und ein wirksames Mittel zur Demokratieförderung und zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.

Ein drängendes Problem für die EU sei die Armutsbekämpfung, weil Armut immer mehr grenzübergreifend wirke. Mindestlöhne, die ein würdiges Leben ermöglichten, existierten vielfach nicht. Löhne, die dies garantierten, gebe es nur mit Tarifverträgen. Gendergerechtigkeit sei nur zu erzielen, wenn tief verwurzelte, gesellschaftliche Denkweisen verändert werden.

Agata Dziubińska-Gawlik, Präsidentin des Europäischen Begegnungszentrums und Stiftung Nowy Staw (FNS-EDS), machte darauf aufmerksam, dass sich die Arbeitsmärkte derzeit stark wandelten und es erforderlich sei, die digitale Alphabetisierung der Arbeitnehmer/innen voranzutreiben. Außerdem spiele die soziale Wirtschaft für den Einstieg in den Arbeitsmarkt gerade für junge Menschen eine wichtige Rolle.

Die Mitglieder im Europäischen Parlament (MEP) Cindy Franssen und Dennis Radtke riefen die EK dazu auf, die Umsetzung der ESSR zu beschleunigen und dafür eigene Finanzmittel bereitzustellen. Es dürfe nicht sein, dass für dieses wichtige Ziel nur Mittel des Europäischen Sozialfonds (ESF) umgewidmet („Just Transition Fund“) werden sollen.

Neben der Koordinierung der Mindestlöhne in Europa sei es wichtig, die Tarifbindung in Europa zu erhöhen. Es brauche einen Neustart für den sozialen Dialog. MEP Radtke schätzte ein, dass der von Kommissionspräsidentin von der Leyen initiierte „Green Deal“ zu Arbeitsplatzverlusten führe und mahnte die Schaffung neuer, guter Arbeitsplätze an.

Zur Frage der Koordinierung von Sozialversicherungssysteme wurde vorgestellt, dass die EK eine neue Richtlinie vorbereite, in deren Rahmen allgemeine Prinzipien beschrieben sowie Leistungen für Arbeitslose, Familien und bei Pflege geregelt werden sollen. Darüber hinaus sollen Möglichkeiten zur Kombination von Ansprüchen verschiedener Mitgliedsstaaten geschaffen werden und Regelungen gegen Leistungsmissbrauch und bei Irrtümern in diesem Bereich gefunden werden.

Nicht alles könne von der europäischen Ebene erwartet werden. Es gelte vor allem, nationale soziale Sicherungssysteme in der EU einander anzunähern, einen Ausgleich zwischen den Mitgliedsstaaten zu schaffen und mobile EU-Bürger/innen zu schützen.

Bei der Koordinierung der Mindestlöhne in der EU ist die EK vor allem bestrebt, Arbeitnehmer/innen, die nur über geringe Verhandlungsmacht verfügen, zu schützen. Bei der Festlegung von Mindestlöhnen stelle sich die Frage, was ein angemessener Lohn sei, wie die Sozialpartner in die verbindliche Festlegung von Mindestlöhnen eingebunden seien und welche Reichweite die Abdeckung hat.

Nach Auffassung von Arbeitnehmerorganisationen müsse sich der Mindestlohn an den tatsächlichen Lebenshaltungskosten orientieren; eine alleinige Ausrichtung auf einen prozentualen Medianlohn führe vor allem in Niedriglohnländern zu viel zu niedrigen Mindestlöhnen. Von der EU wird ein rechtlich bindendes Instrument gefordert, das Mindestlöhne in Europa regelt. Die Arbeitnehmerorganisationen sind der Auffassung, dass sie ein Impuls für eine positive Lohnentwicklung sein können. Eine möglichst breite Abdeckung der Arbeitnehmerschaft mit Tarifverträgen, ausgehandelt im sozialen Dialog, sei jedoch unverzichtbar.

Das digitale Zeitalter erfordert es, dass die Bildungssysteme sich sowohl in ihrer Ausrichtung als auch hinsichtlich der Inhalte und der eigenen Infrastruktur mit der digitalen Durchdringung aller Lebensbereiche auseinandersetzen und geeignete Schritte ergreifen. In Bezug auf die Arbeitswelt können qualitative Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt beobachtet werden. Der soziale Dialog gerät durch sich verschiebende Kräfteverhältnisse unter Druck.

Schlussfolgerungen:

  • Arbeitnehmer/innen müssen spüren können, dass Europa für sie da ist. Dies geschieht z.B., wenn soziale Sicherungssysteme europäisch koordiniert werden und dadurch Arbeitsmobilität erleichtert und abgesichert wird.
  • Auch wenn es starke Unterschiede bei den Mindestlöhnen in Europa gibt, ist ihre Koordinierung ein wichtiger Schritt zu größerer Konvergenz und ein Impuls für eine positive Lohnentwicklung, die vor allem durch Tarifverträge im sozialen Dialog abgesichert werden muss. Mindestlöhne müssen auf europäischer Ebene einen rechtlich verbindlichen Rahmen erhalten, unter Beteiligung der Sozialpartner bestimmt werden und dürfen sich bezgl. der Höhe nicht allein auf Medianlöhne beziehen.
  • Digitaler Analphabetismus muss überwunden und berufliche Bildung muss im Hinblick auf eine digitale Arbeitswelt gestärkt werden.
  • In Bezug auf den „Green Deal“ der EU muss ein Sinneswandel erfolgen und die beabsichtigte Umgestaltung auch Antworten auf die damit zusammenhängenden, drängenden sozialen Fragen geben. Es bedarf dazu sozialer Investitionen, die sich nicht allein in der Umwidmung von ESF-Mitteln erschöpfen darf.
  • EZA fühlt sich verpflichtet, zu diesen Themen in Bildung und Diskussion beizutragen.