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Wanderarbeit in Europa – eine besondere Herausforderung für menschenwürdige Arbeit in ausgewählten Branchen

Der Anteil an Wanderarbeiter/innen innerhalb der Beschäftigungsstrukturen in Europa nimmt beständig zu. Mittlerweile ist Wanderarbeit ein wichtiger Bestandteil in der Landwirtschaft und in der Pflegelandschaft in Westeuropa. Die fleischverarbeitende Industrie in Deutschland macht negative Schlagzeilen. Nicht nur dort werden die Arbeitsbedingungen als „moderne Sklaverei“ bezeichnet. Unabhängig von Branche und Entsendenation sind häufig die Arbeitsbedingungen schlecht bis katastrophal.

In Herzogenrath sammelten im Rahmen der Arbeitsgruppe „Wanderarbeit in Europa – eine besondere Herausforderung für menschenwürdige Arbeit in ausgewählten Branchen“, die vom 11. bis 14. März 2019 in Herzogenrath, Deutschland, stattfand rund 29 Teilnehmer/innen aus Ukraine, Litauen, Estland, Deutschland, Portugal, Spanien, Deutschland, Niederlande und Bulgarien Informationen zum Status quo der Wanderarbeit in der Europäischen Union. Die eingeladenen Initiativen stellten ihre Arbeit zum Thema vor, tauschten Erfahrungen aus und erarbeiteten den Dialog mit Initiativen und Gewerkschaften aus Entsendeländern. Die TeilnehmerInnen kamen aus Gewerkschaften und katholischen Einrichtungen der Arbeitnehmer/innenbewegung. Die Arbeitsgruppe wurde durchgeführt mit Unterstützung von EZA und der Europäischen Union.

Die wichtigsten Aspekte

Die so genannte Arbeitsemigration erfolgt aus osteuropäischen EU-Ländern wie Bulgarien, Polen und Rumänien. Die teilweise kriminellen Anwerbeagenturen werben Menschen mit falschen Versprechungen nach Deutschland und andere westliche EU-Länder an.

Den Arbeitsemigranten/innen fehlen meistens Informationen über die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Verhältnisse in den Zielländern der Arbeitsaufnahme.

Es fehlt Interesse der nationalen und europäischen Politik – weil es ja EU-Bürger/innen sind, die in der ganzen EU frei ihren Arbeitsplatz wählen können. Es gibt sowohl legale, als auch illegale Wanderarbeit und die Arbeitsplätze werden nicht oder nur schlecht auf Missbrauch durch die Arbeitgeber/innen kontrolliert.

Gerade jetzt ist dieses Seminar von Wichtigkeit.

Zurzeit gibt es allein in Deutschland zirka 3 Million Arbeitsmigranten/innen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie in sozialversicherungspflichtigen oder in illegalen Beschäftigungsverhältnissen stehen.

Das Thema ist weder in der Öffentlichkeit noch in der nationalen und europäischen Politik von Bedeutung und so lange in der östlichen EU die Einkommens-, Arbeits- und -Wirtschaftsverhältnisse wesentlich schlechter sind als in der westlichen EU, wird es weiterhin Arbeitsemigranten/innen geben, die in so genannter „moderne Arbeits- und Lohnsklaverei“ leben müssen. Alle EU-Bürger/innen haben aber die freie Arbeitsplatzwahl in der EU und die gleichen Rechte – auch Menschenrechte und Würde. Es ist wichtig, das Thema stärker öffentlich zu machen, um diese „moderne Sklaverei“ einzudämmen oder zu verhindern.

Diskutierte Themenfelder

Am Beispiel der Fleischindustrie in Deutschland wurden die menschenunwürdigen Arbeitsverhältnisse dargestellt. Die Branchen Bauindustrie, der private Pflegebereich, Landwirtschaft, Dienstleitungsbereich in der Gastronomie in Nobelhotels spielten ebenfalls eine große Rolle.

Prälat Peter Kossen (Bistum Münster) berichtete von der so genannten deutschen „Fleischmafia“. Es herrschen mafiöse Strukturen im Umgang mit osteuropäischen Arbeitsmigranten/innen. Mit ihrer Arbeitskraft werden Millionen Euro für Vermittlung und Ausbeutung verdient. Die betroffenen Arbeitnehmer/innen verdienen weit unter dem deutschen Mindestlohn, bewohnen abrissreife Unterkünfte, haben keinen Anspruch auf Behandlung im Krankheitsfall und können sich über ihre Rechte nicht informieren, weil sie die Sprache nicht beherrschen und Angst haben. Sie werden benutzt, verbraucht, verschlissen und entlassen, wenn sie keine Leistung mehr bringen.

Dr. Hildegard Hagemann von Justitia et Pax aus Berlin bezog gemeinsam mit dem DGB Stellung zur Europäischen Mobilitätspolitik. Sie berichtete, dass die sozialen Auswirkungen von Wanderarbeit/Arbeitsmigration europaweit noch nicht hinreichend erforscht sind. Zirka 50 % aller Arbeitsverhältnisse weltweit sind informell. Mobilität ist ein Schlüsselwort in der globalen Arbeitswelt. In der Landwirtschaft, den haushaltsnahen Dienstleistungen und in der Nahrungsmittelindustrie werden Wanderarbeiter/innen eingesetzt, damit die Produktions- und Dienstleistungskosten niedrig bleiben. Insgesamt liegt die Arbeitsmigration in Deutschland bei 3,5 Millionen Menschen bei steigender Tendenz.

Die Europäische Union tut sich sehr schwer mit der rechtlichen Regulierung von Arbeitsmigration. Es gibt zwar Richtlinien, wie die EU-Hausangestelltenkonvention, das Stockholmer Programm oder der UN-Wanderarbeiterkonvention. Diese sind aber von vielen Staaten nicht ratifiziert. Gleichzeitig gibt es nur mangelhaften Schutz für Wanderarbeiter/innen, ihre Familien und es fehlt an Sensibilität für die Auswirkungen verstärkter Arbeitsmigration auf die Herkunftsländer.

Länderberichte

Veselin Mitov (Podkrepa, Bulgarien) berichtete, dass zirka 2 Millionen Menschen aus Bulgarien unter schlechten Bedingungen in westlichen EU-Ländern arbeiten, weil der Durchschnittslohn in Bulgarien bei zirka Euro 300 liegt. Bulgarien hat zirka 9 Millionen Einwohner/innen und immer mehr Menschen wollen das Land verlassen. Qualifizierte Arbeitskräfte und Know-how gehen verloren. Die Situation ist in Bulgarien schlecht. Staat und Wirtschaft werden schlecht gemanagt, kulturelle, bildungsmäßige und die gesellschaftlichen Verhältnisse sind unterdurchschnittlich.

Eero Mikenberg (ETÖK, Estland) berichtete, dass dort die Arbeitsemigration eher positiv gesehen wird. Die Menschen arbeiten zum Beispiel in Finnland – weil dort die Einkommen viel höher sind und die Arbeitsbedingungen stimmen. In Finnland gibt es keinen Niedriglohnsektor. Finnland braucht in den nächsten 5 Jahren zirka 20.000 Arbeitsmigranten/innen. In Estland selbst steigen allerdings die Löhne seit einiger Zeit von 1.000 € im Jahre 2016 auf 1.400 € im Jahre 2018 im Durchschnitt. Die Inflationsrate sinkt (z. Zt. 4 %) und es gibt seit einiger Zeit Wirtschaftswachstum. Esten/innen kommen wieder in ihr Land zurück.

Erfahrungsberichte; beispielhafte Initiativen, die sich mit Wanderarbeit befassen und Konsequenzen für die tägliche Arbeit

Schwester Svitlana Matsiuk, Steyler Missionschwester (SSpS), und Betriebsseelsorger Johannes Eschweiler vom Bistum Aachen berichteten von ihrer Unterstützung und Begleitung von Wanderarbeiter/innen in den so genannten ‚Live ins‘ in Heinsberg und Umgebung. Die Arbeitsmigranten/innen kommen hauptsächlich aus Bulgarien, Polen, Ukraine. Sie arbeiten vorwiegend in privaten Haushalten als Pflegekräfte, in der Landwirtschaft und im Bauwesen. Es gibt keine richtigen Arbeitsverträge, keine vernünftige Kommunikation. Im Rahmen der Unterstützung wird zu Wanderarbeitnehmern/innen Kontakt aufgenommen und Gesprächskreise mit Begegnung und Austausch aufgebaut. Außerdem erfolgt seelsorgliche und persönliche Begleitung, sowie die Vermittlung von Unterstützung bei arbeits- und sozialrechtlichen Fragen. Begleitet wird dies durch Öffentlichkeitsarbeit, politische Arbeit und Sprachkurse.

Rosi Becker und Heinz Backes stellen das Selbsthilfenetzwerk „Respekt“ des Bistums Aachen und der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) Aachen vor. Das Netzwerk organisiert seit 2017 zirka 80 osteuropäische Betreuungskräfte. Sie kommen miteinander in Kontakt und besuchen Deutschkurse, um ihre Kommunikation in Deutschland zu verbessern. Die Wanderarbeiter/innen haben oftmals keine Ausbildung. Sie werden zum Beispiel im Bereich Pflege geschult.

Maria Reina Martin stellt die Internationale Plattform der Mitarbeit und Migration IPCM vor. Sie verfolgt als Hauptziel die Förderung von solidarischen Aktionen hinsichtlich der internationalen Entwicklungs- und Migrationszusammenarbeit. Sie trägt dazu bei, Hunger, Armut, Krankheit und Analphabetentum abzuschaffen.

Catalina Guia stellt Arbeit und Leben DGB/VHS NRW e.V. Düsseldorf vor. Der Verein berät und unterstützt Arbeitnehmer*innen aus Ost- und Mitteleuropa in arbeits- und sozialrechtlichen Fragen und hilft beim Aufbau eines Netzwerks von Strukturen zur Information, Beratung und Begleitung und bietet Hilfe bei der Durchsetzung fairer Arbeitsbedingungen. Der Wissenstransfer mit Gewerkschaften und Bevölkerung ist obligatorisch.

Justyna Oblacewicz stellt „Fair Mobility" des DGB Berlin vor. Sie betreut Beschäftigte aus mittel- und osteuropäischen Ländern auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Sie hilft bei der Durchsetzung gerechter Löhne und fairer Arbeitsbedingungen. Das Projekt arbeitet mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund und den interregionalen Gewerkschaftsräten zusammen.

Die wichtigsten Ergebnisse / Erkenntnisse

Arbeitsmigration geschieht vor allem aus Armutsgründen und hat gravierende Folgen: Kinder wachsen teilweise ohne Eltern auf (so genannte Euro-Weisen). Familien werden zerstört. Arbeitskräfte und Know-how wandern ab – die wirtschaftliche, kulturelle, gesellschaftliche Entwicklung in den Heimatländern wird schlechter. „Moderne Sklaverei“ ist auch eine Folge des neoliberalen Kapitalismus. Gleiche Lebens- und Arbeitsverhältnisse in allen EU-Ländern verhindert Wanderarbeit und Lohnsklaverei. Das Thema wird in der Öffentlichkeit und Politik nicht wahrgenommen. Gewerkschaften und kirchliche Organisationen sind „zu lieb“.

In Deutschland ist Wanderarbeit oft gleichbedeutend mit Schwarzarbeit. Es bestehen prekäre Arbeitsverträge oder Scheinselbstständigkeit. Zu den am meisten betroffenen Branchen gehört die Fleischindustrie, Nobelhotels, Bauwirtschaft, Privathaushalte (Betreuung und Pflege alter und kranker Menschen) und die Landwirtschaft (Saisonarbeiter/innen). Die Wanderarbeiter/innen arbeiten oftmals rund um die Uhr, können ihre Rechte nicht einfordern, erhalten ihre Überstunden nicht bezahlt, so dass der Stundenlohn oftmals erheblich unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegt.

Die wichtigsten Forderungen

Gewerkschaften müssen sich modernisieren, um Menschen in solchen Arbeitssituationen zu erreichen. Neue Kommunikationsformen müssen her, z.B. Webplattformen, um die Kommunikation mit den Wanderarbeitern/innen zu verbessern. Zusammenarbeit auch mit Nicht-Regierungs-Organisationen ist wichtig. Die Menschen müssen durch Betreuung stark gemacht werden, damit sie ihre Rechte gemeinsam einfordern. Die Katholische Kirche muss sich intern und nach außen diesem Problem stellen. Kontrollbehörden – wie der Zoll – müssen nachhaltiger Arbeitsplätze kontrollieren und kriminelle Unternehmen müssen bestraft werden. Nationale und europäische Politik muss mit gemeinsamen, öffentlichen Kampagnen auf das Thema aufmerksam gemacht werden. Die vielen kleinen und größeren Projekte und regionalen Beratungsstellen zum Thema müssen besser finanziell und logistisch unterstützt werden.

Beschluss

Die Veranstalter/innen haben gemeinsam mit den Teilnehmenden beschlossen, dass es aufgrund der vielen regionalen und internationalen Projekte und Beratungsstellen aus den Gewerkschaften, der Kirche und freier Organisationen sinnvoll ist, bei der Europäischen Kommission (im Rahmen der Erasmus-Programmlinie) ein Projekt „Unterstützung und Aufbau von Netzwerken und Stärkung von Kapazitäten für transnationale Arbeit sowie die Förderung von Ideen, Methoden und Praktiken“ zu beantragen, um die hier vorgestellten und viele weitere Initiativen miteinander besser zu vernetzen, Erfahrungen auszutauschen, Zusammenarbeit zu fördern, Arbeitsmethoden für den Arbeitsalltag zu entwickeln und die Ergebnisse der Öffentlichkeit aus Gesellschaft und Politik publiziert vorzustellen.