Die im Oktober 2022 verabschiedete Richtlinie verfolgt zwei Hauptziele. Erstens soll sie den Deckungsgrad von Tarifverhandlungen in den Mitgliedstaaten erhöhen, in denen dieser unter 80 % liegt. Zu diesem Zweck verpflichtet sie diese Mitgliedstaaten, günstige Bedingungen für Tarifverhandlungen zu schaffen und gegebenenfalls Aktionspläne zu deren Förderung zu verabschieden.
Zweitens legt die Richtlinie fest, dass in Mitgliedstaaten, in denen gesetzliche Mindestlöhne bestehen (d. h. in allen Mitgliedstaaten außer Österreich, Dänemark, Italien, Finnland und Schweden, wo Mindestlöhne durch Tarifverträge festgelegt werden), diese gesetzlichen Mindestlöhne auf der Grundlage klar definierter Kriterien festgelegt und aktualisiert werden müssen. Die Richtlinie listet dann einige Mindestkriterien auf, die berücksichtigt werden müssen, wie z. B. die Lebenshaltungskosten in dem betreffenden Land. Die Richtlinie zielt also nicht darauf ab, die gesetzlichen Mindestlöhne in der gesamten EU zu harmonisieren, sondern lediglich einen Rahmen zu schaffen, der sicherstellt, dass sie in jedem Mitgliedstaat angemessen sind.
Dänemark – unterstützt von Schweden – hat vor dem Gerichtshof Klage auf Nichtigerklärung der Richtlinie erhoben. Es argumentierte unter anderem, dass die Richtlinie gegen die in den Verträgen festgelegte Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten verstoße, da Artikel 153 Absatz 5 AEUV „Löhne und Gehälter“ sowie „das Vereinigungsrecht“ ausdrücklich von den Zuständigkeiten der EU im Bereich der Sozialpolitik ausnehme.
In seinem Urteil vom 11. November 2025 gab der Gerichtshof Dänemark nur teilweise Recht. Er stellte fest, dass sich der Ausschluss der EU-Zuständigkeit in diesen beiden Bereichen nicht automatisch auf alle Fragen erstreckt, die in irgendeiner Weise mit dem Entgelt oder dem Vereinigungsrecht zusammenhängen, sondern nur auf Fälle einer direkten Einmischung des EU-Rechts in die Festlegung des Entgelts oder die Ausübung des Vereinigungsrechts.
Der Gerichtshof erkannte jedoch an, dass die Festlegung einer Liste von Mindestkriterien, die die Mitgliedstaaten bei der Festsetzung der gesetzlichen Mindestlöhne berücksichtigen müssen, eine solche direkte Einmischung darstellt, und hob daher diese Bestimmung der Richtlinie auf.
Er hob auch die Klausel auf, wonach Mitgliedstaaten, die automatische Indexierungsmechanismen für gesetzliche Mindestlöhne anwenden (wie Belgien, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande und Malta), sicherstellen müssen, dass diese Mechanismen nicht zu einer Senkung des Mindestlohns führen können. Diese „Nichtrückschrittsklausel“ wurde ebenfalls als Verstoß gegen den in Artikel 153 Absatz 5 AEUV vorgesehenen Ausschluss in Bezug auf „Löhne“ angesehen.
Welche Auswirkungen hat das Urteil des Gerichtshofs?
In den letzten Jahren – und insbesondere im Jahr 2025 – haben viele Mitgliedstaaten ihre gesetzlichen Mindestlöhne anhand der in der Richtlinie empfohlenen Richtwerte angepasst, wonach diese auf etwa 60 % des Bruttomedianlohns oder 50 % des Bruttodurchschnittslohns festgesetzt werden sollten. Dieser Ansatz hat dazu beigetragen, die Lohnuntergrenzen im Verhältnis zum Gesamteinkommen gerechter zu gestalten und damit das erste Ziel der Richtlinie, nämlich die relative Angemessenheit, zu erreichen. Die zweite Dimension – die Gewährleistung eines angemessenen Lebensstandards durch Mindestlöhne – wird jedoch in der Union nach wie vor uneinheitlich behandelt.
Die Aufhebung der Bestimmung durch den Gerichtshof, wonach die Regierungen „die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten“ berücksichtigen müssen, dürfte diese zweite Dimension kaum stärken. Ohne dieses verbindliche Kriterium haben die Mitgliedstaaten weniger Anreize, die Mindestlöhne an die realen Lebenshaltungskosten anzupassen, und der Zusammenhang zwischen nominalem Lohnwachstum und tatsächlichem Lebensstandard könnte sich abschwächen.
In der Praxis wenden die meisten Mitgliedstaaten diese Grundsätze jedoch bereits in ihren nationalen Lohnfestsetzungsrahmen an und berücksichtigen Faktoren wie Lebenshaltungskosten und Lohnverteilung in ihren nationalen Rechtsvorschriften. Es ist daher unwahrscheinlich, dass sie ihre Gesetze ändern werden, nur weil die Verpflichtung auf EU-Ebene aufgehoben wurde.
Schließlich wird die Aufhebung der Nichtrückschrittsklausel zur automatischen Indexierung nur begrenzte Auswirkungen haben. Nur wenige Länder – insbesondere Belgien, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande und Malta – wenden automatische Indexierungsmechanismen an, und in diesen Systemen hat es noch nie Abwärtskorrekturen gegeben. Das Urteil lässt daher die bestehenden nationalen Praktiken im Wesentlichen unverändert.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne trotz der Aufhebung zweier spezifischer Bestimmungen weitgehend unverändert bleibt. Das Urteil klärt die Grenze zwischen der Zuständigkeit der EU und der Autonomie der Mitgliedstaaten bei der Festlegung von Löhnen: Die Union kann Verfahrensstandards festlegen, um Transparenz und Fairness bei der Festlegung von Löhnen zu gewährleisten, aber sie kann keine Lohnniveaus festlegen. Für die Mitgliedstaaten bestätigt dieses Urteil sowohl ihren Ermessensspielraum bei der Festlegung der Löhne als auch ihre Verpflichtung, Rahmenbedingungen aufrechtzuerhalten, die Angemessenheit und Tarifverhandlungen als Teil des übergeordneten Ziels der EU, eine Aufwärtskonvergenz im sozialen Bereich zu erreichen, fördern. Dennis Radtke, der Berichterstatter des Parlaments zu diesem Dossier, bezeichnete das Urteil des EuGH als „wichtige Klarstellung – und vor allem als gute Nachricht für die Tarifbindung in Europa”.