Geschlechtergerechtigkeit und Inklusion von Migranten/innen, LGBTQ+ und Menschen mit Behinderung in den europäischen Arbeitsmarkt: mit diesen Themen befassten sich die rund 100 Teilnehmer/innen des diesjährigen EZA-Startseminars, das das EZA-Sekretariat gemeinsam mit EUROMF und der Internationalen Plattform für Chancengleichheit (IPEO) sowie mit Unterstützung von Beweging.Academie, Europees Forum und ACV BIE Internationaal organisiert hat.
Aufgrund der anhaltenden COVID-19-Krise, fand das Startseminar unter dem Titel „Mechanismen der Ungleichheit und Ausgrenzung auf dem europäischen Arbeitsmarkt: Was sind die Ursachen und wie können wir sie bekämpfen?“ zum ersten Mal online statt.
Nicht schlecht ist nicht gut genug
Gleich zwei top-aktuelle Politiken der Europäischen Kommission – die Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020-2025 sowie die eine Woche zuvor veröffentlichte EU-Strategie zur Gleichstellung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, Transgender-, nichtbinären, intersexuellen und queeren Personen (LGBTIQ)– standen im Mittelpunkt der zweitätigen Konferenz.
„Ich werde nicht ruhen, wenn es darum geht, eine Union der Gleichstellung aufzubauen“, hat EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bei ihrem Amtsantritt verkündet. Daran lässt sich gut die Botschaft von Helena Dalli, EU-Kommissarin für Gleichstellung, anknüpfen, die sich mit einem Video an die Teilnehmer/innen wandte: „Als Frau in Europa zu leben, ist nicht schlecht. Aber nicht schlecht ist nicht gut genug“, so Dalli.
Lesia Radelicki, Kabinettsmitglied von Dalli, erläuterte, die gesamte Europäische Kommission solle gendersensibel ausgerichtet werden – dazu sei eine Taskforce eingerichtet worden, in der unter anderem die Gleichstellungsbeauftragten der Generaldirektionen mitarbeiten. Auch für die Bewältigung der Covid-19-Krise würden gendersensible Antworten gesucht. „Die einzelnen Kommissare/innen sind aufgefordert, hier eng zusammenzuarbeiten. Ziel ist es, dass jede/r in der Gesellschaft die gleichen Rechte erfährt. Keine/r soll diskriminiert werden“, sagte Radelecki.
EZA-Präsident Luc Van den Brande forderte in seinem Grußwort verstärkte Anstrengungen für die Inklusion benachteiligter Menschen in den europäischen Arbeitsmarkt. „Viele Fortschritte sind europaweit gelungen – doch in der aktuellen Covid-19-Krise drohten viele Errungenschaften vor allem hinsichtlich der Gleichstellung von Frauen verloren zu gehen“, so die Sorge von Van den Brande. Auch junge Menschen und Migranten/innen seien besonders von der Pandemie betroffen.
Geschlechtergleichstellung
Nach dem Austausch mit EU-Vertretern/innen folgten im Startseminar wissenschaftliche Expertise sowie konkrete Fallbeispiele: 30 Stunden Arbeit pro Woche bei vollem Lohnausgleich. Jeroen Lievens stellte eine Fallstudie zur Arbeitszeitverkürzung vor – ein Projekt des Frauennetzwerks von beweging.net, Femma. Die 58 Beschäftigten konnten dabei für ein Jahr ihre Arbeitszeit auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich verkürzen, um bezahlte und unbezahlte Arbeit besser auszugleichen und Familienarbeit mehr Wertschätzung entgegenbringen zu können. Das Ergebnis waren mehr Lebensqualität und mehr Zufriedenheit festgestellt werden, sowohl privat als auch beruflich.
Marieke van den Brink, Professorin für Geschlechtergleichstellung und Diversität der Radboud-Universität Nijmegen, referierte zur Frage, wie organisatorische Prozesse in Betrieben und Behörden die Ungleichheit aufrechterhalten oder sogar erhöhen. Je nach Sektoren gebe es sehr unterschiedliche Genderungleichheit am Arbeitsplatz. Nach wie vor seien sehr wenige Frauen in Leitungsfunktionen und gleichzeitig noch immer mehr Frauen als Männer in prekären Arbeitsverhältnissen, arbeiteten mehr Frauen in Teilzeit und nähmen mehr Frauen Elternzeit. Sie stellte verschiedene Theorien vor, um zu mehr Gleichberechtigung am Arbeitsplatz zu kommen, und hob hervor, dass dazu organisatorische Strukturen sowie „inclusive leadership“ wichtig seien. Diversität müsse zugelassen werden, um deren Vorteile überhaupt wahrnehmen zu können.
LGBTQ+
Ellen Delvaux,IDEWE, Externer Dienst für Prävention und Schutz am Arbeitsplatz in Flandern, gab einen Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen in der EU. Bestehende Richtlinien zum Arbeitsschutz und Gleichberechtigung am Arbeitsplatz schließen auch LGBTQ+ ein, dennoch erführen LGBTQ+-Personen Diskriminierung. Sie beleuchtete die Gruppe der LGBTQ+ als Risikogruppe hinsichtlich psychischer Belastungen am Arbeitsplatz und unterstrich deren Benachteiligung bei Berufseinstieg, Karrierechancen und Verdienst.
Ellis Aukema vom flämischen Dachverband der LGBTQ+-Organisationen benannte Bildung und die Entwicklung von Problembewusstsein als Schlüssel für mehr Akzeptanz in der Gesellschaft und stellte das Projekt PREVENT vor.
Migranten/innen
Patrizia Zanoni, Professorin für Organisationsstudien an der Universität Utrecht, gab einen Überblick über die Situation von Migranten/innen auf dem Arbeitsmarkt in der EU. Unter Arbeitsmigranten/innen gäbe es viele prekäre Arbeitsverhältnisse, viel Teilzeit und viele seien nicht repräsentiert. Vor allem für Migranten/innen von außerhalb der EU bestünde ein großes Armutsrisiko. Zanoni betonte dabei, dass es sich bei Arbeitsmigranten/innen nicht um eine homogene Gruppe handele, sondern vielmehr sich eine ‚Superdiversität‘ dahinter verberge. Zanoni richtete auch Forderungen an Arbeitnehmerorganisationen, die geschichtlich gesehen nicht immer Vorreiter der Inklusion gewesen seien. Lange habe man sich auf ‚den idealen Arbeiter‘ fokussiert. „Für diese Organisationen ist die Mobilisierung von Migranten/innen jetzt ein großes Thema. Wenn Arbeitnehmerorganisationen weiterhin politische Bedeutung haben wollen, müssen sie diverser werden. Es braucht eine ausgewogene Verteilung von Arbeitnehmern/innen.“
Menschen mit (arbeitsrelevanter) Behinderung
Eline Jammaers, Professorin an der Katholischen Universität Löwen, rief den Teilnehmern/innen ins Bewusstsein, dass jeder sechste Mensch weltweit eine Behinderung habe. Die Arbeitswelt sei oft nicht auf Behinderungen eingestellt, mit der Folge, dass nur sehr wenige Menschen mit Behinderung überhaupt einen Arbeitsplatz finden. Hilfreich können Beschäftigungsquoten für Arbeitnehmer/innen mit Behinderungen sein, wie dies in einigen zentraleuropäischen Ländern der Fall sei.
Die Forderungen
Heidi Rabensteiner, Koordinatorin der Internationalen Plattform für Chancengleichheit (IPEO), forderte zum Abschluss des Startseminars, Kinderbetreuung und Pflegezeit müssten für die Rente angerechnet und Karrierechancen für Frauen in Führungspositionen verbessert werden. Flexible Arbeitszeiten für Frauen und Männer für eine bessere Aufteilung der Familienverantwortung sowie Gleichheit bei Chancen im Beruf und bei der Entlohnung seien unbedingt notwendig. Auch unbezahlte Arbeit müsse gerechter zwischen den Geschlechtern aufgeteilt werden.