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Menschenwürdige Beschäftigung und soziale Sicherheit im Westbalkan – von lokalen Besonderheiten zur gemeinsamen EU-Zukunft

Vom 1. bis 3. November 2023 fand in Sofia / Bulgarien ein Seminar zum Thema „Menschenwürdige Beschäftigung und soziale Sicherheit im Westbalkan – von lokalen Besonderheiten zur gemeinsamen EU-Zukunft“ statt, das vom Gewerkschaftsbund PODKREPA in Zusammenarbeit mit dem EZA organisiert und von der Europäischen Union finanziert wurde. Das Seminar fand im Rahmen des EZA-Sonderprojekts für Arbeitnehmerorganisationen im Westbalkan statt. An dem Seminar nahmen Vertreter:innen von Arbeitnehmerorganisationen aus Bulgarien, Frankreich, Serbien, Albanien, Rumänien und Nordmazedonien teil.

Ziel des Seminars

1. Schaffung eines Raumes zur Erörterung transformativer Lösungen für die großen sozialen Herausforderungen, die durch die sich überschneidenden Krisen verschärft werden und die Ungleichheiten und die Vertiefung der sozialen Kluft in der Region weiter verstärken.

2. Förderung der Fähigkeit von Gewerkschaften aus den teilnehmenden Ländern, greifbare Ergebnisse für arbeitende Menschen zu erzielen, insbesondere im Hinblick auf menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen.

3. Beschleunigung der strategischen Zusammenarbeit der Gewerkschaften mit anderen sozialen Einrichtungen im Hinblick auf die Unterstützung einer aktiveren Beteiligung von Gewerkschaftsvertreter:innen am EU-Erweiterungsprozess.

Beschreibung des Seminars

  • Die Veranstaltung wurde mit politischen Beiträgen eröffnet, die sich in erster Linie auf die globalen und regionalen Auswirkungen des russischen Krieges gegen die Ukraine und die daraus resultierenden Krisen konzentrierten, die durch eine Stärkung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den Beitritts-kandidaten des Westbalkans bewältigt werden müssen.

  • Auf das Eröffnungspanel folgten drei Vorträge von Expert:innen zu folgenden Themen: - Das neue EU-Paket für die Länder des Westbalkans – ein zukunftsorientiertes Instrument, das sich auf den grünen und digitalen Wandel konzentriert; - Die uns verbindenden Grundwerte der EU: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit; - Entwicklung von Informationstechnologien – Auswirkungen auf die Bürger:innen.

  • Die Beiträge der teilnehmenden Gewerkschaften informierten über die soziale und ökologische Dimension des Aufschwungs – Ergebnisse und Herausforderungen, mit denen die Arbeitnehmerorganisationen konfrontiert sind.

  • Die Think-Tank-Sitzung „Eine gewerkschaftliche Antwort auf die Krise: innovative Lösungen im Interesse der Arbeitnehmer:innen“ war dem Austausch von Methoden zwischen Gewerkschaftsführer:innen und Expert:innen über erfolgreiche Organisierungsstrategien gewidmet.

  • Während des abschließenden runden Tisches wurden die möglichen Muster für eine größere Abdeckung aller Arbeitnehmerkategorien erörtert, mit Beiträgen von Gewerkschaftsführer:innen und Expert:innen zu zentralen Ideen dazu, wie man neue Mitglieder organisiert und wie man auch gemäßigte Kategorien von Arbeitnehmer:innen erreicht – digital, Plattform, gefolgt von einer allgemeinen Diskussion.

Zusammenfassung, Schlussbemerkungen, Schlussfolgerung und Bewertung des Seminars.

Zentrale Ideen

  • Die Schockwellen der Lebenshaltungskostenkrise haben auch die sechs Länder des Westbalkans erreicht, was in gewisser Weise nur dazu diente, die Unterstützung der EU zu aktivieren. Die EU hat ihre Solidaritätsmaßnahmen auf die Länder des Westbalkans ausgedehnt und bietet bedürftigen Haushalten Unterstützung bei den hohen Energiekosten. Außerdem hat die EU in den Bau neuer Infrastrukturen investiert, um die Abhängigkeit der Region von russischen fossilen Brennstoffen zu verringern. Diese praktische Zusammenarbeit findet parallel zu den Fortschritten auf dem Weg zum EU-Beitritt statt.

  • Angesichts der schwierigen Lage in der Region hat die Europäische Kommission einen neuen Wachstumsplan für den Westbalkan vorgelegt. Der Plan stützt sich auf vier Säulen. Die wichtigsten davon sind die Annäherung der Länder des Westbalkans an den EU-Binnenmarkt und die Vertiefung der regionalen wirtschaftlichen Integration durch die Schaffung eines gemeinsamen regionalen Marktes. Dieser gemeinsame regionale Markt muss auf die Zukunft der Arbeit ausgerichtet sein, denn die beiden größten Herausforderungen liegen in den demografischen Merkmalen der Arbeitskräfte in der Region und den geringen Fortschritten beim digitalen Wandel. Dieser Markt ist entscheidend, um das wirtschaftliche Potenzial der Region auszuschöpfen und sie für europäische Investoren attraktiver zu machen.

  • Die EU gewährt der Region des Westbalkans finanzielle Unterstützung, um ihren Anschluss an den EU-Durchschnitt zu ermöglichen. Sicherlich lassen sich viele positive Effekte aus der Verwendung dieser Mittel aufzählen, aber es gibt auch einige Risiken, die folgendermaßen zusammengefasst werden können:

- Abhängigkeit von der EU-Finanzierung

- Wirtschaftliche Ungleichheiten

- Korruption und Misswirtschaft

- Ineffiziente Mittelverwendung

- Rent Seeking-Verhalten

- Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit

- Politische Spannungen

In diesem Zusammenhang wird die sinnvolle Einbeziehung der nationalen Sozialpartner:innen in die Planung, Überwachung und Umsetzung der EU-Finanzierung dazu beitragen, diese Risiken zu überwinden und einen Rahmen zu schaffen, der die Förderung des sozialen Dialogs auf nationaler und sektoraler Ebene unter Berücksichtigung der nationalen Gegebenheiten begünstigt. 

Die nationalen Sozialpartner:innen sollten, gegebenenfalls mit Unterstützung ihrer nationalen Regierungen, zusammenarbeiten, um herauszufinden, wie der effektive Zugang zu den zugewiesenen EU-Mitteln am besten gewährleistet werden kann.

  • Das Gleichgewicht zwischen den staatlichen Institutionen und den Organisationen der Zivilgesellschaft in der Region ist gestört, der öffentliche Raum ist unruhig und zersplittert, ja sogar polarisiert. In dieser Vielstimmigkeit der Stimmen, Meinungen und Verhaltensweisen müssen die Gewerkschaften in der Lage sein, die sozialen Fragen durch direkte Kommunikation mit den Arbeitnehmer:innen zu kanalisieren, so dass sich die Arbeitnehmer:innen verbunden, gestärkt und politisch durch ihre Organisation vertreten fühlen. Andernfalls werden die Gewerkschaften weiter an Mitgliedern und Einfluss verlieren, während die Arbeitnehmer:innen gleichzeitig weiter an Rechten und Einkommen einbüßen werden.

In diesen turbulenten Zeiten dürfen und sollten die Arbeitnehmer:innen nicht länger die Rechnung für die Lebenshaltungskostenkrise bezahlen. Die Botschaft der Gewerkschaften ist klar: Keine weiteren Sparmaßnahmen! Die Gewerkschaften werden eine Rückkehr zur Sparpolitik nicht zulassen und schlagen einen anderen Weg zur Bewältigung der Krise vor: Investitionen in besser bezahlte, nachhaltige und tarifvertraglich abgesicherte Arbeitsplätze. Der Aufbau von Solidaritätsbeziehungen und die Aufrechterhaltung enger brüderlicher Beziehungen zwischen den Gewerkschafter:innen in der Region haben dabei Priorität.

  • Die EU hat seit ihrer Gründung einen weiten Weg zurückgelegt, und obwohl die Einhaltung ihrer Grundwerte Demokratie, Freiheit, Schutz der Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit gesetzlich verankert ist, scheint das ursprüngliche politische Projekt einer Union, die sich ständig um die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer:innen bemüht, in den Hintergrund zu treten. Das problematische Verhältnis zwischen der ursprünglichen Idee der EU und der Richtung, die sie eingeschlagen hat, stellt die gesamte Art der Beziehung zwischen der Arbeitswelt und dem entstehenden Europa grundsätzlich in Frage. Darüber hinaus stellt sich immer die Frage, was überwiegt: Werte oder Interessen? In der Praxis zeigen die jüngsten Krisen und die anhaltende Stagnation des Integrationsprozesses, wie schwierig es ist, eine gemeinsame Politik zu finden und Kompromisse zwischen den verschiedenen nationalen Bestrebungen zu finden. Daher waren die gewerkschaftlichen Werte – Demokratie am Arbeitsplatz, soziale Solidarität, ethnische Toleranz, bürgerliche Ehrlichkeit, Gleichstellung der Geschlechter – nie wichtiger als jetzt, angesichts einer wachsenden Lebenskosten-krise und der Notwendigkeit, die zunehmenden Ungleichheiten zu bekämpfen. Mit einem Rückgang der Reallöhne um 4 % im Jahr 2022 erleiden die Arbeitnehmer:innen einen noch nie dagewesenen Kaufkraftverlust und gehören zur am stärksten von der Inflation und der derzeitigen Krise betroffenen Personengruppe. In diesem schwierigen Umfeld sehen sich die Arbeit-nehmervertretungen systematischen und gezielten Angriffen ausgesetzt, während Regierungen und Arbeitgeber:innen die Sozialpolitik vernachlässigen, die für den sozialen Frieden und den Fortschritt im Rahmen der EU-Integration von entscheidender Bedeutung ist. Bei dem Versuch, die Schwierigkeiten zu überwinden, werden die Gewerkschaften in allen Ländern der Welt niemals vor den Herausforderungen zurückschrecken und sind fest entschlossen, weiterhin an vorderster Front für die Rechte und die Sicherheit der Arbeitnehmer:innen einzutreten. Die jüngsten Entwicklungen in der politischen Landschaft haben Besorgnis über die Aushöhlung der Gewerkschaftsrechte geweckt, so dass mehr Kampagnen und Mobilisierung erforderlich sind, um Wege zur Durchsetzung der Werte der Gewerkschaften in der gesamten Region zu finden. Um das zu erreichen, müssen die Gewerkschaften die Arbeitsrealität und die Bedürfnisse der Arbeitnehmer:innen berücksichtigen, einschließlich des Wandels von Aufgaben und Arbeitsplätzen, der Innovation, der Mobilität und der Übergänge zu und zwischen Arbeitsplätzen.

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

  • Das soziale Europa kämpft ganz offensichtlich darum, zu seiner früheren Stabilität zurückzukehren. Diesmal geht die Herausforderung von einer fehlgeleiteten Politik aus, die die Arbeitnehmer:innen in doppelter Hinsicht trifft. Nachdem sie bereits erhebliche Reallohnverluste hinnehmen mussten, droht ihnen nun ein schwerer Wirtschaftsabschwung, der Arbeitsplätze vernichtet, weil die Unternehmen die Lebenshaltungskostenkrise immer noch als Vorwand nutzen, um die Preise stärker zu erhöhen, als es die höheren Kosten rechtfertigen würden. Um den Prozess der EU-Integration zu beschleunigen, müssen die Länder des Westbalkans zur gleichen Zeit Reformen angehen und sich dabei verstärkt auf die Stärkung und Förderung der Grundwerte der EU konzentrieren.

  • Die Uhr tickt – die Lebenshaltungskostenkrise hat allen deutlich gemacht, dass die verrufene EU-Integrationspolitik vor einer Reihe von Herausforderungen in Bereichen wie Rechtsstaatlichkeit, einschließlich der Unabhängigkeit der Justiz, der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität, der Medienfreiheit sowie der wirtschaftlichen Entwicklung, dem Umweltschutz und dem sozialen Zusammenhalt steht. Der soziale Dialog kann einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung dieser Herausforderungen leisten, indem er durch Lobbyarbeit und Überwachung einen längerfristigen, transformativen gesellschaftlichen Wandel herbeiführt. Denn wenn es um die Demokratie am Arbeitsplatz geht, sind die Gewerkschaften die einzige Organisation, die mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht fordert und dabei die Bedürfnisse der Arbeitnehmer:innen in den Mittelpunkt stellt. Darüber hinaus kann die Einbeziehung der Gewerkschaften in den Erweiterungsprozess dazu beitragen, das Verständnis der Bürger:innen für diejenigen Reformen zu vertiefen, die erforderlich sind, um die Anforderungen der EU-Mitgliedschaft zu erfüllen. Das wird dazu beitragen, dass die EU-Integration auf einer echten Beteiligung der Bürger:innen an der öffentlichen Debatte beruht.

  • Die Gewerkschaften der Region müssen ihre Zersplitterung überwinden und ihre eigene Organisationsstruktur stärken, da sie sonst Gefahr laufen, zu einer nur auf sich selbst konzentrierten Organisation zu werden, die weit von den tatsächlichen Bedürfnissen der Arbeitnehmer:innen, die sie vertreten, entfernt ist. Um aktiv neue Mitglieder zu gewinnen und in Verhandlungen wirklich stark sein zu können, muss eine Vision mit drei strategischen Dimensionen umgesetzt werden:

- kurzfristige Strategie – direkter Kontakt, sehr schnelle Reaktion, Zusammenarbeit im Team, Hinzuziehung von Expert:innen, Unterrichtung der zuständigen Institutionen;

- mittelfristige Strategie – Ehrlichkeit gegenüber den Mitgliedern, keine falschen Versprechungen, ständige Kommunikationskanäle aufrechterhalten, die Errungenschaften besser erklären – im Moment erfährt die breite Öffentlichkeit überwiegend nur das, was die Gewerkschaften nicht erreicht haben. Und unsere tatsächlichen Erfolge bleiben für die Gesellschaft unsichtbar.

- langfristige Strategie – direkt an Universitäten und Schulen gehen, um junge Menschen für die Werte und Aktivitäten von Gewerkschaften zu sensi-bilisieren. Die langfristige Strategie muss auch Maßnahmen umfassen, um neue Kategorien von Arbeitnehmer:innen zu erreichen und aktiv daran zu arbeiten, die Motivation und das Vertrauen der Mitglieder zu steigern. 

  • Maßnahmen zur Ausweitung des Anwendungsbereichs der Sozialpartnerschaft, um eine bessere Vertretung und einen besseren Schutz aller Kategorien von Arbeitnehmer:innen zu gewährleisten, müssen Folgendes umfassen: 

- Rückbesinnung auf den Kern und das wichtigste Instrument der Gewerkschaftsbewegung – den sozialen Dialog als System zur Lösung vielfältiger Probleme und Herausforderungen, das auf gegenseitigem Vertrauen zwischen den beteiligten Parteien beruht.

- Teilnahme an nationalen und EU-Projekten und Suche nach Möglichkeiten zur Einbeziehung der Öffentlichkeit und von NRO.

- aktiv und unterstützend sein und ständig nach Möglichkeiten suchen, unsere Maßnahmen zu stärken und an die neuen Bedingungen anzupassen, mit Blick auf die Zukunft der Arbeit.

  • Um den Beitrittsprozess der Region des Westbalkans wiederzubeleben, bedarf es einer strategischen Vision und der Bemühungen der nationalen Institutionen um die Zukunft ihrer Länder. Zweitens muss man sich Gedanken darüber machen, wie die Glaubwürdigkeit des Beitrittsprozesses durch konkrete Maßnahmen zum Aufbau einer integrativen Gesellschaft wiederhergestellt werden kann. Und zwar eine Gesellschaft, die die Rechte der Arbeitnehmer:innen achtet, die Ausweitung des Sozialschutzes fördert, Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz garantiert und bereit ist, ihre strategischen Planungsfähigkeiten zu verbessern, um dem dringenden Bedürfnis der Bürger:innen nach hochwertigen Arbeitsplätzen nachzukommen.