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Die Rolle der Arbeitsregulierung und der Sozialschutzsysteme bei der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte

Das internationale Seminar „Die Rolle der Arbeitsregulierung und der Sozialschutzsysteme bei der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte“ fand vom 2. bis 5. Februar 2023 in Cartaxo, Portugal, statt. An dem Seminar nahmen 49 Vertreter von 13 Arbeitnehmerorganisationen aus Portugal, Spanien, Frankreich, Belgien, Italien, Deutschland und Litauen teil. Das Seminar wurde von CFTL (Centro de Formação e Tempos Livres) in Zusammenarbeit mit BASE – Frente Unitária de Trabalhadores (BASE-FUT) und mit Unterstützung des Europäischen Zentrums für Arbeitnehmerangelegenheiten (EZA) organisiert sowie von der Europäischen Union finanziert.

Das Seminar basierte auf zwei grundlegenden Erkenntnissen. Das erste ist die zentrale Bedeutung der Arbeit in unseren Gesellschaften, sowohl als grundlegende Quelle der Würde als auch als Bedingung für die Reproduktion der Gesellschaften selbst. Nach mehr als einem Jahrhundert des Kampfes der Arbeitnehmer wurden die Grundsätze, dass Arbeit keine Ware ist und dass das Recht auf Arbeit ein Menschenrecht ist, von den europäischen Staaten in der Erklärung von Philadelphia von 1944 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte voll anerkannt und im Jahre 1948 ratifiziert.

Das institutionelle Gebäude, das diese Grundsätze konkretisiert, ruht auf einem Dreibein: dem Arbeitsrecht, das die den Arbeitsbeziehungen innewohnenden Ungleichheiten anerkennt und zu mildern versucht; das Recht der Arbeitnehmer, Gewerkschaften zu gründen; und das Recht auf Tarifverhandlungen und das Prinzip der günstigsten Behandlung.

Die zweite Beobachtung ist, dass der demokratische Sozialstaat als seine wesentliche Aufgabe die Förderung des Wohlergehens aller Bürger ansieht und sich am Grundsatz der Würde des menschlichen Lebens orientiert. Dies stellte einen epochalen Bruch mit einem minimalistischen Staatskonzept dar, das dem liberalen Kapitalismus innewohnt und in dem die Rolle des Staates auf die Verteidigung des Eigentums und die physische Sicherheit der Bevölkerung reduziert wurde. Der universelle Zugang zur sozialen Sicherheit, einer Form der Sozialversicherung, die auf der Vergemeinschaftung kollektiver Risiken – Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter – basiert, ist der Grundstein für die Verwirklichung dieses Prinzips.

Die letzten Jahrzehnte waren von der Verschärfung der Wirtschaftskrisen geprägt, die der Finanzialisierung des Kapitalismus entgegenwirkten, und zwar nach einem räuberischen Modell gegenüber Menschen und Umwelt. Verschärft wurde dies durch die Unfähigkeit der Staaten, auf die Veränderungen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Transnationalisierung und komplexe Organisation von Unternehmen sowie die Zunahme der Migrationsströme von Arbeitskräften zu reagieren – die wiederum eine Folge der zunehmenden Ungleichheiten zwischen Nord und Süd sowie zwischen den USA und dem Zentrum sowie der  Peripherie sind.

Infolgedessen erleben wir eine Verschlechterung der Grundpfeiler der Arbeitsregulierung. Der Verlust der Fähigkeit der Nationalstaaten, ihr Rechtssystem zu organisieren, und die zunehmende Komplexität, die das Nebeneinander europäischer und nationaler Normen mit sich bringt, erschweren das Handeln der für die Anwendung arbeitsrechtlicher Normen zuständigen Institutionen zusätzlich. Andererseits wurde das Arbeitsrecht in Bezug auf Rechte zum Schutz von Privateigentum und Investitionen zurückgestuft. Die Schwächung des Meistbegünstigungsprinzips in Verbindung mit Gesetzesänderungen, die den Gewerkschaften objektiv die Verhandlungsmacht entziehen, wie etwa das Auslaufen von Tarifverträgen in Portugal oder die gesetzliche Verankerung von Vertragsformen, die eine Umgehung der gewerkschaftlichen Vertretung ermöglichen, führen zur Gefährdung von Kollektivverträgen und Verhandlungen.

Gleichzeitig flüchten sich die politischen Entscheidungsträger in die Vorstellungen eines Ausnahmezustands und einer Sparpolitik, konzentrieren den Diskurs und die politischen Maßnahmen sowie auf die Reaktion auf Notsituationen und beschränken die Sozialpolitik auf minimalistische Hilfsziele und konzentrieren sich fast ausschließlich auf Situationen extremer Armut. Dies impliziert gleichzeitig die Abkehr von sozialwohlfördernden Zielen, die Verwässerung solidarischer Formen und die Untergrabung des Vertrauens der Bürger in die Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme.

Daher ist es notwendig, die Mechanismen des sozialen Dialogs auf nationaler und europäischer Ebene zu stärken und die Kanäle der Solidarität und Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Arbeitnehmerorganisationen im europäischen Raum zu aktivieren. Es ist auch notwendig, Arbeitnehmerorganisationen in die Lage zu versetzen, das Arbeitsrecht als Ganzes, einschließlich Soft Law – wie Verhaltenskodizes und Unternehmensverantwortung – zu betrachten und bewährte Praktiken dort zu nutzen und zu verbreiten, wo sie vorhanden sind. Das bedeutet auch gleichzeitig in der Lage zu sein, Instrumente wie das Wettbewerbsrecht zur Verteidigung von Rechten wie Streiks und die Einrichtung von Mindestdiensten zu ihren Gunsten einzusetzen.

In diesem Rahmen kann die traditionell sehr schwache Einbindung der Sozialpartner in die Gestaltung der EU-Politik von entscheidender Bedeutung für die Suche nach einem besseren Gleichgewicht in den Arbeitsbeziehungen sein. Gleichzeitig kann die Festlegung quantifizierbarer Ziele – wie Tarifbindungsquoten, Gewerkschaftsbildungsquoten – in Mechanismen zur Überwachung der Umsetzung politischer Maßnahmen wie dem Europäischen Semester dazu beitragen, die zentrale Bedeutung der Arbeitsregulierung sowie Beziehungen und Sozialschutzsysteme wieder auf die nationalen Agenden zu rücken.